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Freistetters Formelwelt: Warum applaudieren Menschen synchron?

Synchronizität ist ein seltsames Phänomen: Aus Chaos wird auf einmal Ordnung. Umso überraschter war Yoshiki Kuramoto, als es ihm gelang, die Synchronizität mit einer mathematischen Formel zu beschreiben.
Eine Gruppe von Menschen sitzt in einem Theater und applaudiert. Die Personen sind in seitlicher Ansicht zu sehen, und der Fokus liegt auf ihren klatschenden Händen. Die Atmosphäre wirkt lebhaft und begeistert. Im Hintergrund sind verschwommene rote Sitze zu erkennen.
Nach kurzer Zeit ertönt das Klatschen vieler Menschen synchron. Aber warum?
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Theater. Die Vorstellung war großartig und am Ende beginnen Sie, wie alle anderen Menschen im Publikum, enthusiastisch zu applaudieren. Zuerst klatschen sie völlig unabhängig, aber je länger der Applaus andauert, desto mehr passt sich ihr Rhythmus an den der anderen an. Am Ende klatscht das gesamte Publikum synchron.

Und nun stellen Sie sich vor, Sie sind Teil des Ensembles. Sie hören, wie hunderte Menschen synchron klatschen und gehen zurück auf die Bühne, um eine Zugabe zu geben. Angesichts des großen Erfolgs der Aufführung sind Sie voll mit Adrenalin und Ihr Herzschlag erhöht sich.

Beide Phänomene – der synchrone Applaus und der Wechsel im Herzschlag – lassen sich mit derselben mathematischen Formel beschreiben:

dθidt=ωi+KNj=1Nsin(θjθi)

Dieses »Kuramoto-Modell« entwickelte der japanische Physiker Yoshiki Kuramoto 1975. Es beschreibt die gekoppelten Schwingungen von N Oszillatoren, deren Phase jeweils durch das Symbol θ gekennzeichnet wird. Die Veränderung der Phase des i-ten Oszillators wird durch dessen natürliche Frequenz ω beschrieben. Das ist der Punkt, der von der Schwingung aller anderen Oszillatoren beeinflusst wird. Wie stark die Kopplung zwischen ihnen ist, wird durch die Kopplungskonstante K vorgegeben. Damit ist es Kuramoto gelungen, ein Modell für die Synchronizität zu entwickeln, das sehr einfach und damit vielfältig einsetzbar ist, andererseits aber auch komplex genug, um die reale Synchronizität abzubilden.

Die beiden Beispiele vom Anfang demonstrieren diese komplexe Vielfalt sehr gut. Im einen Fall handelt es sich um ein soziales Phänomen, bei dem Menschen den Rhythmus ihres Klatschens unbewusst einander angleichen. Beim zweiten Beispiel verändern die Zellen, die den Takt unseres Herzschlages vorgeben, ihre Frequenz, so dass sich der Puls entsprechend erhöht.

Stromnetze, das Gehirn und Glühwürmchen

Und es gibt noch viel mehr Beispiele für ähnliche Effekte: Die Synchronisation in Stromnetzen, die neuronale Aktivität in unserem Gehirn oder das Blinken von Glühwürmchen. Das Verhalten all dieser unterschiedlichen Systeme kann mit dem Kuramoto-Modell erforscht werden, auch wenn die den Phänomenen zu Grunde liegenden Ursachen jeweils unterschiedlich sind. Die Herzzellen nutzen elektrische und chemische Signale, um sich zu synchronisieren, die Glühwürmchen ein visuelles und das klatschende Publikum ein akustisches Feedback. Und beim Stromnetz sind es elektromagnetische Kräfte, die Generatoren im Gleichklang halten.

Das Kernstück von Kuramotos Modell ist die Anpassung der Phasen, die durch den Term mit der Sinusfunktion umgesetzt wird. Ein Oszillator, dessen Rhythmus hinterherhinkt, beschleunigt leicht. Und einer, der zu schnell ist, wird langsamer. Der Unterschied in der Phase ist im Argument der Sinusfunktion zu sehen und die Kopplungskonstante K bestimmt, wie schnell die Synchronizität erreicht wird.

Kuramotos Modell ist der Ausgangspunkt für die weitere Erforschung dieses Phänomens, zum Beispiel die immer noch nicht völlig verstandenen »Chimären-Zustände«. Sie treten auf, wenn die Kopplung in einem System ungleichmäßig ist, wenn also einander nahe Oszillatoren sich stärker beeinflussen als das bei entfernten Oszillatoren der Fall ist. Dann können einige davon synchron schwingen, während der Rest sich weiterhin chaotisch verhält. Ein besseres Verständnis dieser Zustände kann vielleicht Krankheiten wie Herzrhythmusstörungen oder Parkinson erklären helfen, ist aber auch für viele andere biologische, technische oder soziale Systeme relevant.

Die Bedeutung der Synchronizität für das Verständnis unserer Welt ist kaum zu überschätzen. Yoshiki Kuramoto hat für seine Formel definitiv Applaus verdient.

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