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Angemerkt!: Tod kein Thema?

Antje Findeklee
Es war eine halbwegs gute Nacht: Wenigstens ein paar Stunden Schlaf, der ein bisschen Kraft gebracht hat, den Tag zu überstehen – die Kinder zur Schule zu bringen, einzukaufen, die Wohnung sauberzumachen, all diese Dinge, die der Alltag fordert. Der Alltag eines Lebens, das seit kurzem alles andere als alltäglich ist, weil ein geliebter Mensch durch Tod herausgerissen wurde.

Seitdem brennende Leere an allen Ecken und Enden, die Wunde schmerzt, schwärt, will nicht heilen, monate-, manchmal jahrelang. Wer sich die Berichte von Betroffenen anhört oder liest oder es gar selbst erlebt hat, weiß: Zeit heilt zwar vieles, aber auch nicht alles, und schon gar nicht schnell. Die Trauernden "funktionieren" und merken oft erst sehr viel später, dass das Leben nur noch an ihnen vorbei gleitet.

Wer länger als sechs Monate mit heftigen Trauersymptomen kämpft und nicht den Weg zurück ins Leben findet, der könnte krank sein – sagen Psychologen. Und empfehlen eine Therapie. Doch wie hilflos selbst die Experten dem Leid gegenüberstehen, zeigt nur zu deutlich eine aktuelle Studie: Mit einer besonders angepassten Behandlung speziell konzipiert für "komplizierte" oder pathologische Trauer, konnten Katherine Shear von der Universität von Pittsburgh und ihre Kollegen 51 Prozent ihrer Probanden helfen, während auf eine gängige Depressionstherapie nur 28 Prozent ansprachen. Nun, Trauer ist keine Depression, sie kann höchstens deren Ausbruch fördern. Und die Besonderheit in Shears Methode bestand darin, mit den Trauernden zusätzlich gezielt über den Toten und die Todesumstände zu sprechen, eine Art Zwiesprache zu imitieren und sie mit Situationen zu konfrontieren, denen die Betroffenen nach dem Tod aus dem Weg gegangen waren, weil sie Erinnerungen weckten.

Unter pathologischer Trauer verstehen die Forscher übrigens ein anhaltendes Nicht-wahrhaben-wollen des Todes, Ärger und Bitterkeit über den Verlust, wiederkehrende Anfälle von schmerzlichen Emotionen mit intensiven Sehnsuchtsanfällen nach dem Verstorbenen und häufige gedankliche Beschäftigung mit dem Toten und auch den Umständen des Todes.

Sind das – wohlgemerkt nach einem halben Jahr – kranke Gefühle? Können es nicht ganz normale, gesunde Anzeichen eines höchst individuellen Bewältigungsprozesses sein, der Loslösen wie Bewahren beinhaltet, in einer schwierigen Balance zwischen dem notwendigen Nachvorneschauen und dem ebenso notwendigen Erinnern? Die uns nur zu schnell als krank erscheinen, weil Trauer heutzutage kein Thema mehr ist? Weil es leichter macht, eigene mangelnde Initiative zu entschuldigen – "Krankhaftes" überlässt man schließlich lieber den Experten?

Es geht nicht um die Frage, ob professionelle Hilfe den Trauerprozess erleichtern, gar erst möglich machen kann. Die Antwort darauf ist klar und eindeutig ja – so der richtige Therapeut und die passende Therapie gefunden werden, man denke an die 51 Prozent. Und es geht auch nicht darum, dass schwere Trauer in psychische Krankheiten wie Depressionen führen kann, daran herrscht kein Zweifel.

Doch wirft die Einstufung der Symptome als "krankhaft" ein interessantes Licht darauf, wie wir heute Trauer empfinden und mit Trauernden umgehen. Nach einem halben Jahr, so hört man eben nicht nur in medizinischen Kreisen, sollte das Ganze doch wirklich bewältigt sein – wer dann noch "schlecht" auf die Frage nach dem Befinden antwortet, der hat etwas falsch gemacht. Der ist krank. Wir sind ungeduldig geworden, durchhängen ist nicht angesagt, es muss doch vorwärts gehen heutzutage. Wer weinen will, sollte es durch eine lachende Clownsmaske tarnen. Das Leben geht weiter, du musst an morgen denken und an die Kinder. Der Sprüche, gut gemeint und doch nur Zeugen der Hilflosigkeit, gibt es viele, hohl und falsch klingen sie, trotz wahren Kerns, zunächst alle.

Früher trugen Menschen schwarz, um ihre Trauer zu zeigen. Es schützte sie auch – ein Aspekt, an den vielleicht wenige denken: Denn die dunkle Tracht signalisierte den Verlust und weckte Nachsicht und Mitgefühl im Gegenüber. Viele andere Riten rund um den Tod werden nicht mehr gepflegt, und obwohl neue entstehen, stoßen Trauernde schnell auf Unverständnis, wenn sie ihren Schmerz auch nach längerer Zeit nicht verstecken. Sind wir denn nicht in der Lage, Betroffene heute in Gedanken in schwarz zu kleiden und ihnen so mehr Freiheit für ihre Gefühle zuzugestehen?

Nein, es ist keine Frage, dass vielen, wahrscheinlich den meisten Trauernden eine Therapie helfen wird – in welcher Form und wann allerdings, müssen sie selbst bestimmen. Doch Trauernde brauchen weit mehr: Sie brauchen Menschen, die sie von Anfang an begleiten – und zwar mit mehr als hohlen Worten und ungeduldigen Ratschlägen. Sie brauchen Menschen, die in allen großen und kleinen Fragen des Alltags und der Bewältigung für sie da sind, die zuhören, mit schweigen und gedenken, aber auch Anstoß geben für neue Aktivitäten, den Blick nach vorn, und das nicht nur die ersten sechs Monate.

Und Trauernde brauchen vor allem das Recht, ihren ganz normalen Schmerz über den Verlust nicht nach einem halben Jahr als krankhaft abgestempelt zu sehen, weil er ihren Mitmenschen unangenehm ist. Sie müssen ihn zeigen und durchleben dürfen, auch noch nach zwei, fünf, zehn Jahren – so lange, wie sie für einen Abschied und ein Weiterleben mit der Erinnerung benötigen. Es muss ihnen erlaubt sein, offen mit zerschlagenen Träumen und Plänen zu kämpfen und dem Schicksal zu hadern. Es muss mehr als ein hilfloses oder womöglich pikiertes Räuspern wecken, wenn noch Jahre später am Todestag des Vaters, dem Geburtstag des verstorbenen Kindes, dem Lieblingsplatz der verunglückten Partnerin die Tränen fließen. Nur dann werden die Verlassenen das Ganze gesund überleben und den Neuanfang schaffen.

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