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Mäders Moralfragen: Trügerische Sicherheit in einer unübersichtlichen Welt

Warum werden Populisten an die Macht gewählt? Weil sie marginalisierten Menschen vermeintlichen Halt bieten, erklären Yuval Noah Harari und Francis Fukuyama in ihren neuen Büchern. Doch die Lösungen der beiden Intellektuellen liegen weit auseinander.
Trump-Flagge

Vor 100 Jahren wurden Menschen unterdrückt und ausgebeutet, mit Dissidenten wurde kurzer Prozess gemacht. Das geschieht heute auch noch, aber ein wachsender Teil der Bevölkerung fühlt sich weniger durch eine brutale Obrigkeit bedroht als vielmehr durch eine schwer zu fassende Elite, die Geld, Daten und Wissen verwaltet und weltweit verschiebt. Diese Elite profitiert von der Globalisierung und der Digitalisierung, während alle anderen damit ruhiggestellt werden, dass sie billig in den Urlaub fliegen und dann Fotos vom Urlaubsort in den sozialen Medien posten können. Die Arbeitskraft der normalen Menschen wird hingegen immer seltener gebraucht. Man könnte sagen: Im 21. Jahrhundert kämpfen die Menschen dagegen, unsichtbar zu werden und damit ihre Würde zu verlieren.

Diese These vertritt der Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari in seinem neuen Buch »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert«: »Mag sein, dass einfache Menschen von künstlicher Intelligenz und Biotechnologie nichts verstehen, aber sie spüren, dass die Zukunft an ihnen vorbeigeht.« Diese Sorge treibe sie in die Arme der Populisten. In seinem Buch malt Harari eine Zukunft aus, in der Maschinen einen Großteil der Arbeit erledigen – auch die von Anwälten und Ärzten. Außerdem nutzen Diktatoren die sozialen Medien, um ihr Volk so zu beschäftigen, dass es sich über den Sinn seines Lebens keine Gedanken macht. (Dieses Szenario habe ich auf der Plattform »RiffReporter« ausführlicher beschrieben.) Hinzu kommen Harari zufolge rasante Fortschritte in Genetik und Neurowissenschaft, die es möglich machen, die Fähigkeiten von einigen Menschen deutlich zu verbessern – und alle anderen in einen zufriedenen Dämmerschlaf zu versetzen wie in Aldous Huxleys Roman »Schöne neue Welt«.

Eine Alternative zum ständigen Wirtschaftswachstum

»Möglicherweise werden populistische Revolten im 21. Jahrhundert nicht gegen eine Wirtschaftselite aufbegehren, welche die Menschen ausbeutet«, fasst Harari zusammen, »sondern gegen eine solche, welche die Menschen schlicht nicht mehr braucht.« Und er fügt bitter hinzu: »Kann gut sein, dass die Menschen diese Schlacht verlieren.« Vor 25 Jahren sei das noch ganz anders gewesen. Damals – nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks – hätten viele Intellektuelle geglaubt, »das generalüberholte liberale Paket aus Demokratie, Menschenrechten, freien Märkten und staatlichen Sozialleistungen sei als einzige Möglichkeit übrig geblieben«, schreibt Harari. Der Politologe Francis Fukuyama sprach sogar vom »Ende der Geschichte«. Doch inzwischen ist für Harari klar, dass die liberale Erzählung nicht funktioniert. In einigen Regionen der Welt hat sie zwar dauerhaften Frieden und erheblichen Wohlstand gebracht, doch ebenso den Klimawandel und die Finanzkrise.

»Mag sein, dass einfache Menschen von künstlicher Intelligenz und Biotechnologie nichts verstehen, aber sie spüren, dass die Zukunft an ihnen vorbeigeht«Yuval Noah Harari

Die Menschheit braucht also eine Alternative zur liberalen Erzählung, und es ist keine in Sicht. Einfach die Wirtschaft weiter wachsen zu lassen und auf technische Innovationen zu vertrauen, ist für Harari keine Lösung. Er beschreibt den Status quo so: »Wir befinden uns noch immer im nihilistischen Moment der Desillusionierung und des Zorns.« Überraschenderweise bekommt er für seine Analyse Unterstützung von einem Vordenker, den er selbst kritisiert: Francis Fukuyama argumentiert in seinem neuen Buch »Identity« ganz ähnlich. (In einem Artikel in der Zeitschrift »Foreign Affairs« fasst Fukuyama seinen Gedankengang zusammen.) Fukuyama macht allerdings eine konkrete Ursache aus und entwickelt daraus eine Strategie, während Harari seinen Lesern eine Lösung schuldig bleibt.

Fukuyamas Strategie dürfte nicht jedem gefallen, denn er nimmt eine Errungenschaft der politischen Linken ins Visier. Er wendet sich gegen den Trend, die Besonderheiten von Gruppen aller Art immer stärker zu betonen: Hautfarbe, Religion, Geschlecht und Nationalität bieten viele Möglichkeiten, die eigene Identität zu formen und Respekt dafür einzufordern. Fukuyama spricht von »Identitätspolitik«. Diesen Trend beschreibt er zwar als wichtig, weil er marginalisierten Gruppen Gerechtigkeit bringt. Die #MeToo-Debatte habe zum Beispiel vielen Männern gezeigt, was sie mit ihrem rücksichtslosen Verhalten auslösen. Doch diese Sicht auf individuelle und kulturelle Unterschiede hat für Fukuyama auch zwei Nachteile.

Jetzt wollen die Weißen die Opfer sein

Der erste Nachteil: Die Identitätspolitik bietet einfache Lösungen ohne große Reichweite, lenkt vielleicht sogar die Aufmerksamkeit von anderen wichtigen Themen ab. Ein Beispiel aus Fukuyamas Arbeit als Professor ist das Bemühen, den Studierenden nicht nur die Werke von weißen Männern nahezubringen. Dazu kommentiert er in »Foreign Policy«: »Es ist einfacher, Autorinnen und Vertreter von Minderheiten in die Curricula von Hochschulen aufzunehmen, als die Einkommen und die Chancen von Frauen und Minderheiten außerhalb des Elfenbeinturms zu verbessern.« Auch auf die Globalisierung und die Digitalisierung habe die Identitätspolitik keine Antwort – und gebe damit Arbeitern einen Grund, plötzlich rechts zu wählen. »Der Rechtsruck spiegelt auch das Versagen der linken Parteien wieder, die Nöte der Menschen wahrzunehmen, deren relativer Status infolge der Globalisierung und des technologischen Wandels gesunken ist«, schreibt Fukuyama.

Das führt zu einem zweiten Nachteil der Identitätspolitik: Die politische Rechte hat die bisher links gefärbte Identitätspolitik für sich entdeckt und beklagt nun den Niedergang des weißen Mannes. Die politische Bewegung, die Donald Trump gerade salonfähig mache, übernehme sogar die Sprache der Linken, diagnostiziert Fukuyama: Sie spreche davon, »dass die Weißen Opfer seien, dass ihr Leid von der Gesellschaft nicht wahrgenommen werde und dass die sozialen und politischen Strukturen, die dafür verantwortlich sind – vor allem die Medien und das politische Establishment – zerstört werden müssten«.

Aus dieser Diagnose entwickelt Fukuyama seine Lösung: Wir müssen uns immer auch als Teil einer großen Wertegemeinschaft verstehen. »Die Bürger moderner Gesellschaften haben mehrere Identitäten, die durch soziale Interaktionen geformt werden«, schreibt er. »Und obwohl es in der Logik der Identitätspolitik liegt, die Gesellschaft in kleine, selbstbewusste Gruppen aufzuteilen, ist es auch möglich, breitere und integrativere Identitäten zu erschaffen.« Sonst könnten Menschen, die ihre geistige oder soziale Heimat in Gefahr sehen, von Politikern verführt werden, »die ihnen sagen, dass sie von den Herrschenden verraten und gering geschätzt würden, obwohl sie Mitglieder einer wichtigen Gemeinschaft seien, deren Größe eines Tages wieder anerkannt werde«. Mit seinem Slogan »Make America great again« hat Donald Trump demnach ins Schwarze getroffen.

Benutze deinen Verstand vs. Erkenne dich selbst

Konkret schlägt Fukuyama vor, das Bürgerschaftsrecht zu ändern: Nicht die Abstammung, sondern der Geburtsort sollte über die Nationalität entscheiden. Und er rät Deutschland dazu, die Diskussion um eine Leitkultur wieder aufzunehmen. Ein Land sollte sich über seine Ideale definieren – und über die müsse man streiten, sonst überlasse man das Feld den Populisten, die ohne irgendwelche Belege einfach behaupten, sie würden den Willen der Mehrheit vertreten. In gewisser Weise hält Fukuyama also am Erfolg der liberalen Erzählung fest: Im Prinzip könnten wir uns als Europäer definieren, die sich als Erben der Aufklärung sehen. Wenn sich Menschen als Teil einer großen Gemeinschaft verstehen, so die Logik, werden sie sich mächtiger und sichtbarer fühlen – und könnten die vielen Herausforderungen der Gesellschaft endlich angehen. (Ein ähnliches Szenario habe ich auf der Plattform »RiffReporter.de« dargestellt und einige Stimmen aus der Forschung zum Populismus zusammengetragen.)

Yuval Harari würde Fukuyama jedoch widersprechen, vermute ich. Er würde einwenden, dass eine Leitkultur nicht reicht, um beispielsweise die Schere zwischen Arm und Reich wieder zu schließen. Harari ruft seine Leser dazu auf, wachsam und skeptisch zu bleiben und niemandem zu vertrauen, der einfache Antworten bietet. Jede Ideologie habe ihre Schattenseiten, die Religionen sowieso. Er bevorzugt »undogmatische säkulare Bewegungen«, die »um ihre Unvollkommenheiten wissen und hoffen, kleine, schrittweise Veränderungen bewirken zu können, indem sie etwa den Mindestlohn um ein paar Euro anheben oder die Kindersterblichkeit um ein paar Prozentpunkte senken«.

Eine Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit bietet Harari nicht. Seine Strategie gegen das Unsichtbarwerden in der modernen Welt ist vielmehr eine ganz persönliche: Er meditiert regelmäßig und versucht, seinen Körper und seinen Geist genau zu beobachten. Denn zu wissen, was man wolle, sei entscheidend geworden, warnt er: »Wir sollten besser unseren Geist verstehen, bevor die Algorithmen dies tun und für uns entscheiden.«

Die Moral von der Geschichte: Wofür lohnt es sich zu kämpfen? Auf diese Frage suchen Yuval Harari und Francis Fukuyama eine Antwort. Suchen wir mit!

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