Die fabelhafte Welt der Mathematik: Mathematik erklärt, wie Tiger zu ihren Streifen kommen

Heute ist Alan Turing weltbekannt, denn der Mathematiker verhalf den Alliierten zum Sieg gegen die Wehrmacht, indem ihm das Unmögliche gelang: Er überwand eine als unknackbar geltende Verschlüsselung. Die Geschichte dahinter erzählt der sehr sehenswerte Film »The Imitation Game«. Turings unfassbare Leistungen wurden aber erst nach seinem Tod bekannt, denn seine kryptografische Arbeit blieb bis in die 1970er Jahre unter Verschluss.
Zu Lebzeiten machte sich Turing daher bloß in der Fachwelt einen Namen. Gerade seine Beiträge im Bereich der theoretischen Informatik schlugen hohe Wellen: Er entwickelte das mathematische Modell eines Computers und konnte so erklären, welche mathematischen Größen dieser überhaupt berechnen kann – und welche Aufgaben sich selbst mit den ausgeklügeltsten Algorithmen niemals bestimmen lassen. Letzteres betrifft etwa die Frage, ob ein Computerprogramm jemals halten wird oder seine Berechnung für immer fortsetzt. Turing hat gezeigt, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Frage für jeden beliebigen Algorithmus zu beantworten.
Darüber hinaus ist Turing für den nach ihm benannten Test bekannt, der beurteilen soll, wie »menschlich« eine KI wirkt. Wenn Personen beispielsweise nicht unterscheiden können, ob sie mit einem echten Menschen oder einer KI chatten, dann hat die Maschine den Turing-Test bestanden.
Die Liste von Turings wissenschaftlichen Beiträgen ist lang. Doch eine Forschungsrichtung von ihm wird nur selten erwähnt: seine Arbeiten zur mathematischen Biologie, in denen er sich mit der Bildung von Mustern beschäftigte. Ihn trieb dabei die Frage um, wie Tiere, etwa Tiger oder Leoparden, zu ihren eindrucksvollen Fellzeichnungen kommen. Er war davon überzeugt, es müsse einen bestimmten Mechanismus geben, der dazu führt, dass sich die Pigmente in den Hautzellen in diesen charakteristischen Mustern anordnen.
Wie kommt der Tiger zu seinen Streifen?
Als ich das erste Mal davon hörte, war ich verwundert. Einer meiner Physikprofessoren hatte in einer Erstsemesterveranstaltung einen »Tigerfell-Tensor« erwähnt, der mich und meine Kommilitonen eher zum Lachen als zum Nachdenken brachte. Denn was sollte das Muster eines Tigerfells schon mit abstrakter Mathematik zu tun haben? Ich war bis dahin davon ausgegangen, dass irgendwelche komplexen biochemischen Prozesse wohl zu den beeindruckenden Punkt- und Streifenmustern führen – nicht so etwas wie ein »Tensor« (eine Art hochdimensionale Tabelle).
Inzwischen weiß ich: Da fehlte mir offenbar die nötige Vorstellungskraft. Bei Turing war das anders. Seiner Mutter zufolge war er schon als Kind ein Träumer, der die Natur um sich herum bewunderte. Er wollte seine Umgebung verstehen. Dabei bot sich Mathematik als Sprache an, um selbst die komplexesten Zusammenhänge auf das Wesentliche zu reduzieren. Und so fand Turing einen recht simplen Mechanismus, der die Muster der Natur erklärt.
Um Turings Ideen zu verstehen, braucht man zunächst ein bisschen biologisches Wissen. Das Fellmuster eines Tigers steht schon vor dessen Geburt fest. Im Embryo entstehen die farbgebenden Substanzen an der Stelle, wo sich später die Wirbelsäule entwickeln wird, und sie wandern von dort aus durch den ganzen Körper. Turing wollte herausfinden, was während dieser Ausbreitungsphase passiert.
Es war unmöglich, alle miteinander wechselwirkenden Moleküle eines Tigerembryos zu modellieren. Überdies war Turing kein Experte für Biochemie. Deshalb begann er, wie für Mathematiker üblich, mit einem denkbar einfachen Modell. Er untersuchte, wie sich zwei unterschiedliche pigmentgebende Moleküle, die er allgemein Morphogene nannte, von Zelle zu Zelle ausbreiten.
Eine Geschichte von zwei Morphogenen
Angenommen, eines der Morphogene ist für die schwarze Farbe zuständig und ein anderes für die gelbe. Außerdem beeinflussen sich diese zwei Substanzen gegenseitig: Je mehr schwarze Morphogene da sind, desto mehr Moleküle werden allgemein erzeugt – also schwarze und gelbe. Die gelben Morphogene hemmen wiederum die Produktion der schwarzen. Ein solches Wechselspiel findet man in der Ökologie häufig vor. So kann man sich die schwarzen Morphogene wie Hasen vorstellen, die sich schnell vermehren und dadurch Füchse (die gelben Morphogene) anziehen. Die Füchse aber fressen die Hasen auf und grenzen dadurch deren Population ein.
Turing erkannte, dass dieses komplexe Zusammenspiel von Fuchs und Hase zu vielfältigen Situationen führen kann. Manchmal werden kleine Kolonien von Hasen von verschiedenen Füchsen in der Umgebung in Schach gehalten. Das ähnelt schon einem punktförmigen Muster, wie es Geparden auf dem Fell tragen.
Dieses Räuber-Beute-Schema übertrug Turing auf die Morphogene, die sich durch die Zellen bewegen. Zudem musste er das Phänomen der Diffusion berücksichtigen: Wenn eine Zelle viele schwarze Morphogene beherbergt, eine benachbarte Zelle aber wenige, dann streben die Moleküle dorthin, damit sie möglichst gleichmäßig verteilt sind.
All diese Prozesse lassen sich durch so genannte Differenzialgleichungen beschreiben. Das sind Gleichungen, die auch Ableitungen enthalten. Diese geben an, wie sich die Anzahl der Morphogene pro Zelle verändert. Turing untersuchte mit den Gleichungen, wie sich zwei Morphogene in den Zellen ausbreiten und welche Verteilung sich am Ende einstellt. Dabei konnte er an mehreren Stellschrauben drehen: Wie viele Füchse und Hasen gibt es zu Beginn? Wie schnell vermehren sich die Hasen, und wie viele Füchse ziehen sie an? Wie schnell breiten sie sich jeweils aus? Wie sind die Zellen angeordnet, durch welche die Moleküle wandern? All diese Faktoren beeinflussen das Muster, das sich am Ende einstellt.
Als Turing dieses Problem untersuchte, hatte er keinen leistungsfähigen Rechner zur Verfügung. Viele der Kalkulationen musste er per Hand durchführen. Er löste die Differenzialgleichungen und zeichnete auf, wie sich die beiden Morphogene am Ende in den Zellen verteilen. Tatsächlich beobachtete er, wie Muster entstanden. In einigen Fällen ergaben sich Streifen, in anderen fand er Punkte vor und manchmal Flecken ähnlich wie bei Kühen. (Falls Sie auch gerne mit dem Turing-Mechanismus experimentieren möchten, aber keine Lust auf langwierige Berechnungen haben, gibt es hier die passende Webseite.)
Wie Turing herausfand, hängt die Art des Musters von der Anordnung der Zellen ab. So bilden sich Streifen eher in kleineren, länglichen Gebilden aus, während Punkte auf großen Flächen entstehen. Nun ist ein Tiger kein kleines Tier, aber seine Musterung deutet darauf hin, dass die Verteilung der Morphogene zu einem Zeitpunkt stattfindet, zu dem der Tigerembryo noch sehr klein ist. Bei Leoparden scheint es anders zu sein. Der Effekt zeigt sich auch bei Geparden: Ihr Körper ist gepunktet, während ihr Schwanz gestreift ist.
Schöne Theorie, aber was sagt die Praxis?
Leider erregten auch diese Arbeiten von Turing zu dessen Lebzeiten nur wenig Aufmerksamkeit. Das könnte daran liegen, dass kurz nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 1952 die Doppelhelix-Struktur der DNA entdeckt wurde und das alles andere überschattete. Es dauerte etwa 20 Jahre, bis Fachleute erneut auf Turings Arbeiten stießen. Fortan wollten Biologinnen und Biologen prüfen, ob der Turing-Mechanismus auch wirklich in der Natur auftritt. Doch die dafür benötigten Technologien sind erst seit den 2000er Jahren verfügbar.
Um Turings Vermutung zu beweisen, muss man die entsprechenden Morphogene in den Tieren identifizieren. Das ist alles andere als einfach. Inzwischen sind aber einige Fälle bekannt, in denen es gelang. So konnten Fachleute zwei Proteine in Mäusen nachweisen, die den streifenförmigen Aufbau ihres Gaumens erzeugen. Und auch die Anordnung der Haarwurzeln der Tiere scheint auf zwei Proteine zurückzugehen. Ebenso entstehen wohl die Färbungen von Zebrabärblingen durch den Turing-Mechanismus, allerdings im komplexen Zusammenspiel von drei statt bloß zwei Morphogenen. Die Beispiele zeigen, dass sich Turings Erkenntnisse nicht nur auf Farbmuster beschränken, sondern auch auf andere Strukturen angewendet werden können.
Und was ist mit dem Tiger und seinen Streifen? Bisherige Studien, in denen eindeutig Morphogene nachgewiesen wurden, beschränkten sich vorrangig auf Mäuse. Mit diesen Tieren lässt sich deutlich einfacher experimentieren. Immerhin häuften sich in den letzten Jahren immer mehr Beweise dafür an, dass der Turing-Mechanismus in vielen biologischen Systemen realisiert ist. Um diesen auch zweifelsfrei bei den Großkatzen nachzuweisen, findet sich hoffentlich eine Strategie, die ohne Laborversuche auskommt.
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