Krebs verstehen: Würdevolles Sterben ermöglichen

Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Sie kam mit Blaulicht in die Notaufnahme und starb, kaum dass wir mit der Untersuchung begonnen hatten. Eine alte Dame aus einem Pflegeheim mit einem Infekt und einer Blutvergiftung, die schon viele Jahre an einer schweren Demenz litt. Ich hätte mir für sie einen anderen Tod gewünscht – nicht in der grellen Notaufnahme, ohne Vertraute, ohne Ruhe.
»Die meisten Menschen wollen in ihren eigenen vier Wänden sterben, tatsächlich sterben die meisten aber im Krankenhaus.« Dieser Satz hat mich tief berührt, als ich ihn vor ein paar Tagen auf einer Fortbildung zur Palliativmedizin hörte.
Zwischen Todeswunsch und Lebenswillen
Wenn Patienten an unheilbaren, fortschreitenden Erkrankungen leiden, die unweigerlich zum Tod führen, versuche ich frühzeitig mit ihnen über das Sterben, ihre Sorgen und Vorstellungen zu sprechen. Dabei höre ich häufig so genannte Todeswünsche wie »Ich hoffe, es ist bald vorbei« oder manchmal auch »Im Notfall fahre ich in die Schweiz« – ein Land, in dem Beihilfe zur Selbsttötung verbreitet ist.
Solche Äußerungen muss man ernst nehmen, doch sie bedeuten nicht zwangsläufig, dass der Betroffene sein Leben beenden möchte. Wie Fachleute in der Leitlinie zur palliativmedizinischen Versorgung schildern, können Todeswünsche oft neben einem starken Lebenswillen auftreten. Zudem können sich solche Wünsche mit dem Verlauf der Erkrankung und mit der Zeit verändern.
Hinter solchen Aussagen stecken die unterschiedlichsten Gedanken und Gefühle: die Sorge, in eine unerträgliche, unkontrollierbare Lage zu geraten; die Angst vor Schmerzen, die sich nicht lindern lassen; die Furcht, den Angehörigen zur Last zu fallen.
»Patienten mit fortgeschrittenen, nicht heilbaren Erkrankungen empfehle ich eine palliativmedizinische Beratung«
Was ist Palliativmedizin?
Ich finde es sehr wichtig, dass Patienten über die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung am Lebensende und auch über Sterbehilfe in Deutschland informiert sind. Dieses Wissen kann ihnen Sorgen nehmen und ihnen ein selbstbestimmtes Sterben ermöglichen. Patienten mit fortgeschrittenen, nicht heilbaren Erkrankungen empfehle ich eine palliativmedizinische Beratung, die Hospizvereine oder spezialisierte ambulante Palliativversorgungsdienste (SAPV) anbieten.
Palliativmedizin bedeutet nicht, dass man nichts mehr tun kann. Im Gegenteilt: Sie zeigt, dass man sehr viel tun kann – und zwar so, wie Medizin immer sein sollte. Der Fokus liegt bei einer palliativen Betreuung nicht auf Laborwerten und CT-Aufnahmen, sondern auf dem Patienten. Statt unangenehmer Eingriffe wie Blutabnahmen fragt die Palliativmedizin: Wie geht es dir? Was kann ich tun, damit es dir besser geht? Merkt ein Patient seinen niedrigen Kaliumspiegel nicht, braucht er auch keine Infusion, um diesen Wert anzuheben. Medikamente bekommt er nur dann, wenn sie unmittelbar dazu führen, dass es ihm bessergeht.
In der heilenden Medizin führen wir oft Behandlungen durch, die zwar mittelfristig helfen, im akuten Moment aber unangenehm sind. Die Palliativmedizin funktioniert vollkommen anders. Sie tut nicht das, was irgendwann in der Zukunft gut für den Patienten ist, sondern nur das, was jetzt in diesem Moment Beschwerden lindert. Für uns bedeutet das: Wir sitzen weniger vor dem Computer, sondern mehr beim Patienten. Wir lesen weniger Laborberichte und mehr in seinen Gesichtszügen, um zu verstehen, wie es ihm geht.
Ich habe schon häufig erlebt, dass es Patienten unter palliativer Versorgung besserging als zuvor, als sie noch unter den Nebenwirkungen der Behandlungen litten und oft ins Krankenhaus mussten. Palliativstationen und Hospize habe ich nie als traurige Orte wahrgenommen. Im Gegenteil: Dort wird viel gelacht, geredet und zugehört; die Räumlichkeiten sind viel einladender gestaltet als andere medizinische Einrichtungen. Die Kolleginnen und Kollegen in der Palliativmedizin lindern Beschwerden aller Art – und das mit beeindruckender Hingabe.
Die meisten sterbenskranken Menschen können, wenn sie es wünschen, bis zum Tod zuhause versorgt werden. Im Rahmen der allgemeinen oder spezialisierten ambulanten Palliativversorgung werden sie umfassend betreut: von Palliativärzten und -pflegern, Hausärzten, Atem- und Physiotherapeuten, Wundpflegern, Sozialpädagogen, Psychologen, Seelsorgern und Hospizbegleitern. Manche Menschen brauchen keine intensive Betreuung. Andere haben jedoch komplexe Beschwerden; für sie stehen rund um die Uhr die Behandlungsteams der SAPV-Dienste über Notfalltelefonnummern bereit. So muss niemand befürchten, im Fall akuter Beschwerden keine Hilfe zu bekommen.
Was Sterbehilfe in Deutschland leisten kann – und was nicht
Eine der wichtigsten Aufgaben der Sterbehilfe ist für mich, Menschen am Lebensende vor medizinischer Übertherapie zu schützen. Im Fall der dementen Dame hätte die Alternative auch so aussehen können: Sie bleibt in ihrer gewohnten Umgebung, liegt in ihrem Bett und erhält, falls nötig, beruhigende Medikamente, aber keine gegen den Infekt. Zu entscheiden, eine Infektion bei einer fortgeschrittenen, unheilbaren und bald zum Tod führenden Erkrankung nicht mehr zu behandeln, kann als eine Form der Sterbehilfe verstanden werden. Sterben zuzulassen, indem man lebensverlängernde Maßnahmen – wie etwa eine künstliche Ernährung oder eine Beatmung – unterlässt oder beendet, ist eine gängige und legale Form der Sterbehilfe in Deutschland. Diese so genannte passive Sterbehilfe ist für mich eine der wichtigsten palliativmedizinischen Maßnahmen, um ein würdevolles Sterben ohne unnötiges Leid zu ermöglichen.
Eine weitere legale und etablierte Form der Sterbehilfe ist die indirekte Sterbehilfe. Sie umfasst Therapien am Lebensende, die Beschwerden lindern, aber als Nebenwirkung den Sterbeprozess beschleunigen können. Dazu gehört etwa die Gabe hochdosierter Schmerz-, Beruhigungs- oder Schlafmittel. Auch solche Maßnahmen sind Alltag in der Palliativmedizin.
In sehr seltenen Fällen kann sogar eine interdisziplinäre Behandlung die Beschwerden nicht genug lindern. Dann können Ärzte eine sogenannte palliative Sedierung durchführen: Sie versetzen den Patienten in einen schlafähnlichen Zustand wie bei einer Narkose, bis er verstirbt. Die palliative Sedierung ist ebenfalls eine legale und etablierte Form der Sterbehilfe in Deutschland.
Aktive Sterbehilfe, also die Tötung auf Verlangen, ist in Deutschland verboten. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin positioniert sich dazu klar: »Die Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht das Sterben als einen natürlichen Prozess. Sie lehnt aktive Sterbehilfe ab.«
Eine Beihilfe zur Selbsttötung ist in Deutschland zwar nicht strafbar, doch Ärzte sind nicht verpflichtet, sie zu leisten. Im Fall einer Suizidbeihilfe können ihnen sogar standesrechtliche Konsequenzen drohen. »Nach unserem Verständnis kann der Impuls, das eigene Leben zu beenden, nur vom Betroffenen selbst, nicht aber vom Arzt oder von der Ärztin ausgehen, es gibt keine medizinische Indikation, den Tod herbeizuführen«, erklärt die Gesellschaft für Palliativmedizin.
Die Fachleute kritisieren, dass es nicht genügend Informationen und Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen gibt, die eine Selbsttötung in Betracht ziehen. Sie fordern mehr Suizidprävention sowie den Ausbau von Hospiz- und Palliativversorgungsangeboten für schwerkranke Menschen mit fortschreitenden Erkrankungen. Mehr öffentliche Aufklärung zu palliativmedizinischen Betreuungsangeboten könnte helfen, Vorurteile abzubauen. Denn viele Betroffene fürchten den Verlust von Würde und Selbstbestimmung am Lebensende – obwohl eine gute, palliative Begleitung genau diese Werte schützen kann.
Wie möchte ich sterben?
Ich rate meinen Patienten und Angehörigen, sich schon frühzeitig mit Fragen zu beschäftigen, die am Lebensende eine Rolle spielen: Möchte ich zuhause sterben? Will ich bei einem schweren Infekt noch einmal ins Krankenhaus, auch wenn ungewiss ist, ob ich es je wieder verlasse? Wünsche ich mir eine Maximaltherapie, um mein Leben so lange wie möglich zu verlängern? Oder will ich bloß nicht an Maschinen angeschlossen werden? Dazu empfehle ich eine palliativmedizinische Beratung.
Meiner Erfahrung nach sind solche Gespräche häufig sogar befreiend. Einer meiner Patienten kam nach dem Gespräch mit einer erfahrenen Palliativmedizinerin lächelnd auf mich zu: »Jetzt kann ich mir vorstellen, wie es weitergeht«, sagte er und dankte mir, dass ich das Gespräch vermittelt hatte.
In meiner Fortbildung hat mich noch ein weiterer Satz besonders bewegt. Diesmal hat er mich aber zum Lächeln gebracht: Hospizvereine haben Wartelisten für ehrenamtliche Hospizbegleiter. So viele Menschen jeden Alters und Geschlechts, jeder Herkunft und Religion möchten für ihre Mitmenschen da sein und Sterbende auf ihrem letzten Weg begleiten.
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