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Warkus' Welt: Verbannt und vertrieben

Obwohl die Philosophie der Aufklärung aus dem Kampf gegen die Intoleranz entstanden ist, hat sie dazu beigetragen, Rassismus und Intoleranz zu verbreiten. Das zeigen die Schicksale von Christian Wolff und Anton Wilhelm Amo.
Schwarze Hand und weiße Hand

Die Wörter »Bewusstsein« und »Selbstständigkeit« sind aus der deutschen Sprache nicht wegzudenken, aber es gibt sie erst seit zirka 1720. Beide sind, wie viele andere Vokabeln auch, Wortschöpfungen des Philosophen und Universalgelehrten Christian Wolff (1679–1754). Er war einer der Ersten, die wissenschaftliche Vorträge und Publikationen in der Philosophie auf Deutsch hielten und nicht mehr auf Latein, wie es seit dem Mittelalter Tradition gewesen war.

Wolff war sicher einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit, aber seine Werke, deren spektakulär umfangreiche Gesamtausgabe ein ganzes Regal füllt, werden heute kaum mehr gelesen. Bis auf eines: 1721 hielt Wolff zu einem sehr gewöhnlichen Anlass, nämlich der Amtseinführung seines Nachfolgers als Prorektor der Universität von Halle an der Saale eine Rede. Diese bewirkte in letzter Konsequenz, dass der preußische König ihn zwei Jahre später unter Androhung der Todesstrafe aus der Stadt verbannte. Was war so skandalös gewesen?

In der Festrede »Über die praktische Philosophie der Chinesen« hatte Wolff über seine Forschungen zur klassischen chinesischen Philosophie von Kong Fuzi (Konfuzius, zirka 551–479 v. Chr.) und Mengzi (Menzius, zirka 370–290 v. Chr.) berichtet, deren Schriften seit Neuestem erstmals in französischer Übersetzung vorlagen. Diese Lektüre verband er mit den Eindrücken vom China seiner Zeit, die jesuitische Missionare zusammen mit den philosophischen Texten nach Europa gebracht hatten. Er zog den Schluss, dass dieses China eine mindestens genauso gut organisierte und tugendhafte Gesellschaft habe wie die europäischen Länder, in denen das Christentum Staatsreligion war. Und das, obwohl nach christlicher Auffassung die Chinesen »Heiden« ohne Zugang zur einzig wahren göttlichen Offenbarung waren! Wolff zufolge lag dies daran, dass sie sich bemühten, in ihrem Denken, ihrem Bildungssystem und ihrer Staatsorganisation einzig und allein der menschlichen Vernunft gerecht zu werden. Religion, so konnte man schließen, war auf dem Weg zur Tugend entbehrlich. Solche Gedanken an seiner Universität waren dem streng protestantischen König von Preußen suspekt.

Vom Sklaven zum Gelehrten

Nur wenige Jahre nach Wolffs Vertreibung kommt ein viel versprechender junger Student von der Universität Helmstedt nach Halle, um dort sein Jurastudium fortzusetzen. Er spricht mindestens sechs Sprachen und hat eine aristokratische Erziehung am Hof des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel genossen. In der Folgezeit bildet auch er sich, wie zuvor Wolff, in zahlreichen Disziplinen akademisch aus, unter anderem in der Medizin. Er promoviert in Philosophie und lehrt an mehreren Hochschulen, zuletzt in Jena. Ob er ein Wolff-Anhänger war, ist bis heute nicht ganz geklärt, aber wie Wolff stand auch er in der Tradition der Aufklärung. Er pflegte ein rationales philosophisches Denken, das vor allem »Nüchternheit« und Präzision anstrebt. Seine Feststellung, dass das Christentum nicht die einzige Religion mit einer gültigen Theologie sei, war im Grunde ähnlich revolutionär wie Wolffs China-Rede.

Der viel versprechende junge Mann, Anton Wilhelm Amo (geboren um 1700, gestorben nach 1753), war ein Nzema, geboren auf dem Gebiet des heutigen Ghana. Am Hof in Wolfenbüttel wuchs er auf, weil er als Kind dem Herzog als Sklave geschenkt worden war, als wäre er ein Objekt für eine Kuriositätensammlung, nicht anders als ein ausgestopfter Paradiesvogel oder ein Narwalhorn. So talentiert und gebildet er auch war, so sehr ihn viele Zeitgenossen auch bewunderten, so allein stand er am Ende seiner Karriere in Jena da, als rassistischer Spott überhandnahm. 1747 ging er zurück in sein Herkunftsland, das er kaum kannte und das man kaum sein Zuhause nennen kann. Die deutsche Philosophie nach seiner Zeit nahm kaum mehr Notiz von Amo, aber er war kein Unbekannter. Größen wie Kant und Hegel äußerten sich zu ihrer Zeit in höchsten Maß rassistisch (nicht nur) über Schwarze, obwohl sie wissen konnten, dass es nur wenige Jahrzehnte zuvor einen schwarzen Philosophen gegeben hatte, der an mehreren berühmten deutschen Universitäten gelehrt und über den seine akademischen Kollegen höchst positiv geurteilt hatten.

Christian Wolff und Anton Wilhelm Amo stehen exemplarisch für zwei Aspekte dessen, was wir Aufklärung nennen. Einerseits bedeutet Aufklärung damals wie heute kritisches Selberdenken, geistige Offenheit, Abkehr vom Irrationalen, Suche nach Tugend und Wahrheit, Toleranz und interkulturelles Verständnis. Andererseits vollzog sich die Aufklärung vor einem Hintergrund von blankem Rassismus, kolonialer Ausbeutung, Sklaverei, Mord und Unterdrückung. Sie brachte eine ideologische Blindheit hervor, die gerade durch die selbstsichere Überzeugung, besonders vernünftig zu sein, befördert wurde.

Die Aufklärer leiteten allgemein gültige Werte her, forderten Autonomie, Freiheit und Gleichberechtigung ein – und gleichzeitig schränkten sie die Geltung ihres Arguments auf eine Minderheit der Menschheit ein, ohne einen Blick darauf, was vor ihren Augen lag. Die Vernunft wurde, um den äthiopischen Philosophen Bekele Gutema zu zitieren, »zugerichtet, um einem eingeschränkten Ziel zu dienen: dem weißen männlichen Christen«. So aufgeklärt wir selbst auch sein mögen: Die Welt, in der wir leben, ist in großen Teilen das Produkt des Versuchs der weißen männlichen Christen, sie gänzlich an sich zu reißen. Und bis heute ereignen sich größte gesellschaftliche Verbrechen, nicht weil die Verantwortlichen besonders irrational wären, sondern gerade, weil sie der Überzeugung sind, aus ihrer eigenen Vernünftigkeit heraus gar nicht falsch handeln zu können. Selbst wenn das Leid und der Tod, den sie dabei verursachen, rückblickend gesehen offensichtlich und himmelschreiend ist.

Das Honorar für diese Kolumne geht an die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland.

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