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Vorsicht, Denkfalle!: Meins bleibt meins

Etwas herzugeben, ist emotional oft schwieriger, als eine Sache gar nicht erst zu besitzen. Unser Psychologie-Kolumnist weiß, wie man aus der Verlustaversion dennoch Trost ziehen kann.
Ein Pappkarton steht auf einem Holzboden. Auf dem Karton steht in handgeschriebener Schrift "Kann weg!". Ein Plüschtier in Form eines Hundes hängt über den Rand des Kartons und schaut in die Kamera. Im Hintergrund links ist ein bunter Kinderteppich zu sehen.
Ein geliebtes Kuscheltier abzugeben, ist fast unmöglich. Doch selbst an nie benutzten Dingen halten Menschen gerne fest.
Irren tun immer die anderen. Man braucht etwas nur oft genug zu hören, um es zu glauben. Und wer sein Gegenüber imitiert, wirkt sympathisch. Der Psychologe und Bestsellerautor Steve Ayan stellt in seiner Kolumne »Vorsicht, Denkfalle!« die wichtigsten Effekte und Verzerrungen der menschlichen Psyche vor.

Unsere Tochter besaß früher so ein trichterförmiges Plastikding, aus dem ein Ball in die Höhe schoss, wenn man auf einen Knopf drückte. Man sollte den Ball per Trichter wieder auffangen, doch unsere Tochter hat das nie interessiert. Nachdem das Ding jahrelang in einer Kiste herumgedümpelt hatte, beschloss meine Frau, das könne jetzt mal weg. Kaum war das ausgesprochen, traten dicke Kullertränen in die Augen unserer Tochter, ein jämmerliches »Neeeein, bitte nicht!« erklang aus ihrem Mund, und sie beschwerte sich, wie wir so grausam sein konnten, ihr das geliebte Spielzeug zu stehlen. Meine Frau und ich sahen uns an und sagten unisono, gute Psychologen, die wir sind: »Verlustaversion!«

So nennt unsereins es, wenn etwas abzugeben mehr schmerzt, als einem der Besitz je bedeutete. Was man hat, das gibt man ungern wieder her. Dieser psychologische Effekt ist ein schönes Beispiel für jene Irrationalität, die das Modell des »Homo oeconomicus«, des streng rationalen Gewinnmaximierers, widerlegt. Denn den juckt es kaum, wenn wegkommt, wovon er ohnehin nichts hatte.

Dann besser keine Gehaltserhöhung!

Echte Menschen sind dagegen so gestrickt, dass der bloße Akt der Besitzaufgabe den gefühlten Wert einer Sache in die Höhe treiben kann. Daher erscheint auch eine Gehaltserhöhung, die gleich wieder von der Steuerprogression gefressen wird, vergiftet. Lieber wäre man nie in die höhere Lohngruppe gerutscht!

Natürlich schwankt auch dieses Empfinden individuell. Laut Studien neigen Frauen im Schnitt etwas stärker zur Verlustaversion als Männer, und bei beiden Geschlechtern steigt sie mit dem Alter. Bildung hingegen dämpft den Schmerz von Einbußen.

Der hochgebildete Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) entwarf in seinem Kultbuch »Haben oder Sein« eine Theorie der zwei Existenzweisen: »Die Haben-Orientierung ist charakteristisch für den Menschen in der westlichen Industrie-Gesellschaft, in welcher die Gier nach Geld, Ruhm und Macht zum beherrschenden Thema des Lebens wurde.« Wer dagegen am Sein orientiert sei, wolle nicht besitzen, sondern sinnerfüllt und produktiv leben.

Fromms griffiges Schwarz-Weiß-Raster vernachlässigt leider, dass wir auch Erlebnisse wie Reisen, Liebesaffären oder außergewöhnliche Bewusstseinszustände, quasi den eigenen »Erfahrungsschatz«, psychologisch besitzen, egal wie sehr wir uns ins Sein vertiefen. Und dass ideelle Verluste häufig genauso hart sind wie materielle. Sinkt etwa mein Ansehen oder meine Fitness, schmerzt mich das mehr, als wenn ich nie viel Prestige oder Power besessen hätte. Das sage ich mir neuerdings oft beim Joggen: Wärst du früher nicht so fit gewesen, würde dich dein Geschleiche heute gar nicht stören! So kann man selbst aus dem Verlust Trost schöpfen: Bergab geht es doch nur für den, der vorher oben war.

Unsere Tochter hat den Verlust des Trichterdings inzwischen überwunden – dem Benefiz-Flohmarkt zugunsten des örtlichen Tierschutzvereins sei Dank!

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  • Quellen
Gächter, S. et al., SSRN Electronic Journal 10.2139/ssrn.1010597, 2007
Fromm, E.: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, 1976

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