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Freistetters Formelwelt: Von verschlungenen Pfaden und Knoten

Eine Verschlingung klingt dramatisch. In der Mathematik ist sie jedoch ganz harmlos und darüber hinaus ein sehr nützliches Konzept – von der Quantenmechanik bis zur Biologie.
Knoten in mehreren Seilen
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Ich bin vor Kurzem mit meinem Podcast-Equipment verreist, das unter anderem jede Menge Kabel enthält. Natürlich hätte ich alles fein säuberlich sortiert verpacken können, aber in der Realität war vor der Abreise nicht genug Zeit, so dass ich alle Kabel irgendwie in den Koffer werfen musste. Das Entwirren hat nicht nur sehr lange gedauert, sondern mich auch an das topologische Konzept der Verschlingung erinnert.

Hat man zwei geschlossene Kurven im dreidimensionalen Raum, die sich nicht durchdringen, dann kann man mit dieser Formel bestimmen, wie stark sie ineinander verschlungen sind:

lk=k+k2

Die Gleichung gibt die Verschlingungszahl (»linking number«) an. Um sie zu berechnen, zählt man, wie oft sich die Kurven kreuzen. k+ und k stehen dabei für positive und negative Kreuzungen. Dabei muss man zuerst eine Orientierung bestimmen, also die Richtung, entlang derer man die Kurven durchläuft. Ob eine Kreuzung positiv oder negativ ist, hängt davon ab, ob die eine Kurve über der anderen liegt oder umgekehrt.

Hat man einfach nur zwei Ringe, die ineinanderhängen (wie bei den Gliedern einer Kette), dann kann die Verschlingungszahl +1 oder –1 sein, je nachdem, was man vorab definiert hat. Wenn die beiden Kurven sich öfter umeinanderwinden, dann kann die Verschlingungszahl entsprechend größer sein (muss es aber nicht zwingend; es kommt darauf an, wie viele positive und negative Kreuzungen es gibt).

Einer der Ersten, der sich mit dem Thema beschäftigt hat, war Carl Friedrich Gauß. Er hat das Phänomen als komplexes Integral definiert. Es mag ein wenig übertrieben scheinen, für so etwas Profanes wie verwickelte Kurven eine eigene mathematische Definition aufzustellen. Doch genau das ist eben auch die Stärke der Mathematik: Nur wenn etwas anhand nachvollziehbarer Regeln eindeutig definiert ist, lässt sich damit sinnvoll arbeiten.

Von Topologie bis Genetik

Und eine Mathematik der verworrenen Dinge ist etwas, was wir durchaus benötigen. Verschlungene Kurven findet man überall, sogar in uns selbst. Die Gesamtlänge der DNA in unseren Zellen ist beispielsweise deutlich länger als die Zellen. Sie kann also nicht anders als stark verdreht und verschlungen sein. Um das Verhalten ringförmiger DNA-Moleküle zu beschreiben, verwendet die Biologie die Verschlingungszahl aus der Topologie. Das Konzept lässt sich allerdings genauso in der Magnetohydrodynamik verwenden, denn auch hier sind die Feldlinien ineinander verkettet und verdreht. Wir brauchen die Verschlingungszahl, wenn wir verstehen wollen, wie Sonneneruptionen stattfinden oder wie der Sonnenwind funktioniert. Wenn wir das Feuer der Sonne auf der Erde im Rahmen eines Fusionskraftwerks künstlich kontrollieren wollen, müssen wir komplexe Magnetfelder beherrschen und steuern, was ebenfalls nur dann möglich ist, wenn wir die Verschlungenheit der Feldlinien mathematisch verstehen und beschreiben können.

Richtig fundamental wird die Verschlingungszahl aber in der Quantenmechanik: Dort verwendet man in bestimmten Fällen (zum Beispiel bei der Beschreibung des Quanten-Hall-Effekts) die Chern-Simons-Theorie, deren Formulierung darauf basiert, wie sich Kurven im Raum umeinanderwinden. Die Verschlingungszahl ist darin eine grundlegende Größe, mit der sich Erwartungswerte berechnen lassen.

Die Verschlingungszahl könnte sogar eine Rolle in Theorien der Quantengravitation spielen, also in der immer noch nicht gefundenen Vereinigung von Quantenmechanik und allgemeiner Relativitätstheorie. Die ganze Welt wäre dann – etwas überspitzt formuliert – das Ergebnis der Verschlungenheit von Allem.

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