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Warkus' Welt: Und was fasten Sie gerade?

Schokolade, Alkohol, soziale Medien: Etwas zu fasten, liegt derzeit im Trend. Ob man sich durch Verzicht in Selbstkontrolle oder eher in Selbstverurteilung übt, ist allerdings auch unter Philosophen umstritten, erklärt unser Kolumnist.
Illustration mit zwei Händen vor türkisfarbenem Hintergrund. Eine Hand hält der anderen einen Cupcake entgegen, die andere Person winkt ab.
Für einige Wochen keine Süßigkeiten essen, das Auto stehen lassen oder lieber Wasser statt Wein trinken: Viele Menschen nutzen die Fastenzeit, um sich abseits von religiösen Fastentraditionen im Verzicht zu üben.

Die Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern gilt in verschiedenen christlichen Traditionen als Buß- und Fastenzeit. Aber auch viele Menschen, die keinen Bezug zum Christentum haben, fühlen sich mittlerweile dadurch inspiriert, auf etwas zu verzichten – nicht unbedingt auf Fleisch, Zwischenmahlzeiten und generell üppiges Essen, sondern auf andere Dinge. Früher habe ich unter Freunden um diese Zeit herum immer wieder einmal die Frage gehört: »Und, was fastest du?« Schließlich gibt es viel zur Auswahl, das man sich vorübergehend verkneifen kann, wenn man sich einschlägige Informationsbeiträge anschaut: Süßigkeiten, Koffein, Alkohol, Zigaretten, Autofahren, Aufzugfahren, allabendliches Seriengucken, soziale Medien, Onlineshopping, Verpackungsmüll und so weiter. Verzicht scheint etwas zu sein, dem viele einen gewissen Wert beimessen.

Gleichzeitig steht der Verzicht aber auch unter Verdacht. In der publizistischen und politischen Rhetorik wird, seit ich denken kann, gegen »genussfeindliche«, »puritanische« Einflüsse in der Gesellschaft gewettert, die uns vom Hacksteak über das Plastikspielzeug bis hin zum Bierzeltschlager die verschiedensten angenehmen Dinge und Tätigkeiten madig machen wollten, weil sie aus schlecht verarbeiteter Religiosität oder allgemein schlechter Laune ein ganz grundsätzliches Problem mit Spaß hätten.

Die Ermunterung zum Fasten und die Stimmungsmache gegen die »Spaßfeinde« haben eines gemeinsam: Es geht nicht primär um die materielle Auswirkung des Verzichts, sondern darum, dass der Verzicht als solcher moralisch bewertet wird. Sicher ist es eine schöne Sache, wenn man das Glas Wein zum Abendessen zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag weglässt, dadurch zwei Kilo abnimmt und sich morgens fitter fühlt. Aber deswegen »fastet« man ja nicht. Und wer umgekehrt über »Genussfeindlichkeit« schimpft, tut das nicht, weil er sich Sorgen um den Absatz der Getränkewirtschaft oder der Schokoladenindustrie macht, sondern, weil er sich daran stört, dass Verzicht an sich ein Wert zugewiesen wird.

Die Diskussion um das Für und Wider eines solchen intrinsischen Wertes von Verzicht genießt eine jahrtausendealte Tradition. In der griechischen Antike wurde Askese (was dem Wortsinn nach »Übung« heißt) häufig als etwas Positives betrachtet, obwohl man später den alten Griechen immer unterstellte, im Gegensatz zu den Christen einen besonderen Sinn für Heiterkeit, Exzess und Lebensgenuss zu haben. Man kennt die Hochschätzung der Askese aber auch und vor allem aus den indischen Traditionen im Hinduismus und später im Buddhismus. Das Sich-im-Verzicht-üben wird in beiden Strömungen als Weg zur Selbstkontrolle und zur besseren Selbsterkenntnis angesehen: Wenn man weiß, worauf man verzichten kann, wird einem klarer, was zu einem selbst gehört und was nur irgendwie zufällig erworbene Gewohnheit ist. Zudem soll man durch Verzicht einüben können, mit Wenigem zufrieden zu sein, in sich selbst zu ruhen, philosophisch ausgedrückt: stoisch zu sein.

Warum soll ich ausgerechnet das sein, was übrig bleibt, wenn ich auf alles verzichte, was ich gerne tue?

Andere große Denker, deren berühmtester Vertreter sicherlich Friedrich Nietzsche (1844–1900) war, konnten dieser Idee nie besonders viel abgewinnen. Ihr Gegenargument: Wenn wir uns im Verzicht üben, lernen wir uns nicht selbst besser kennen, wir bekämpfen uns vielmehr selbst. Denn warum soll ich ausgerechnet das sein, was übrig bleibt, wenn ich auf alles verzichte, was ich gerne tue? Wenn ich jemand bin, dem es ungeheuren Spaß macht, bei schönem Wetter mit dem Cabrio durchs Mittelgebirge zu düsen, zu Mittag ein Ribeye-Steak zu essen und abends ein Bier auf der Terrasse zu trinken, warum soll ich mir dadurch näherkommen, dass ich damit aufhöre? Durch Verzicht, so könnte man mit Nietzsche sagen, üben wir eine Praxis der Selbstverurteilung und der Selbstbestrafung ein. Wir laden uns ein schlechtes Gewissen auf, das überhaupt nicht dadurch gerechtfertigt ist, dass wir jemand anderem ernsthaft etwas Böses getan hätten. Unser Verhältnis zu uns selbst und zu den anderen wird letztlich vergiftet, wir nehmen Schaden an unserer Seele. Der Vorwurf geht so weit, dass den Verzichtenden unterstellt wird, sie würden eine perverse Lust am Verzicht entwickeln – den Verzicht als einzigen Genuss zulassen.

Das ist, ganz knapp skizziert, wenn man von religiösen und äußeren Motivationen absieht, der moderne Streit um den Verzicht. Mir ist schon häufiger vorgeworfen worden, ich würde mich in dieser Kolumne gerne um klare Stellungnahmen drücken, und das tue ich hier leider wieder einmal, weil ich beide Seiten völlig verstehe. Solange es allein um den Zugang zum eigenen Selbst und die eigene Weiterentwicklung geht, spricht, so meine ich, für den Verzicht nicht mehr und nicht weniger als für den Exzess. Es ist daher sicherlich gar nicht so schlecht, auch beim »Fasten« und sonstigen Verzichtsüberlegungen nicht bloß auf die eigene Selbstvervollkommnung zu schauen.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

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