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Kolumnen: Vom Elend des Claustrum und der Neurowissenschaften im Allgemeinen

Claustrum
Um eine alte Anekdote aufzuwärmen – mündliche Prüfung in Medizin.
Professor (graubärtig, grimmig, respektgebietend):
»Was ist die Funktion des Claustrum?«
Kandidat (bleich, schwitzend, kleinlaut):
»Grad’ wusst' ich’s noch, ehrlich, aber jetzt hab’ ich’s vergessen …«
Professor (brüllend):
»Sie Vollidiot! Da waren Sie der einzige Mensch, der je wusste, wozu das Claustrum gut ist, und jetzt haben Sie’s auch noch VERGESSEN!«

Tja. Wozu ist das Claustrum gut? Was ist das Claustrum eigentlich? Und warum die ganze Aufregung? Dazu einige nachdenkliche Anmerkungen.

Claustrum | Das (linke) Claustrum (Pfeile) in einem Querschnitt durch das menschliche Großhirn: Seitlich von ihm (Stern) liegt ein Stück Cortex, von dem manche meinen, dass das Claustrum aus ihm hervorgegangen sei: die so genannte. »Insula«, der »Insel-Cortex«. Auf der gegenüberliegenden Seite erkennt man das Claustrum und die Insel der rechten Hemisphäre.


Jeder Medizinstudent im dritten oder vierten Semester kennt das Claustrum. In diesen Semestern pauken die Studiosi die Neuroanatomie, und das Claustrum gehört dazu. Es ist ein Flecken grauer Substanz, eine Ansammlung von Nervenzellen, ziemlich mittendrin im Großhirn. Die Studenten kennen das Claustrum etwa so, wie man die zehnte Zeile des Vaterunsers kennt: »… wie auch wir vergeben unsern Schuldigern ...«. Tausendmal runtergebetet, keine Ahnung, was »Schuldigern« sind. Formelwissen, inhaltsleer, unreflektiert, tot. Den meisten Anatomen geht’s genauso. Ein lästiger Lappen grauer Substanz, Funktion unbekannt.

Das ist eine Möglichkeit, mit dem Claustrum und dem Vaterunser umzugehen, und sie ist typisch für die moderne Hirnforschung. Eine Struktur ohne Funktion: unwichtig, uninteressant. Die andere Möglichkeit, damit umzugehen, ist eigentlich nur das seitenverkehrte Spiegelbild der ersten: wie sexy! Eine Struktur ohne Funktion! Das gibt’s doch gar nicht! Das wollen wir jetzt aber herausfinden!

Vor mir liegt eine Publikation (1), sie trägt den Titel: »What is the function of the claustrum?« Ihr Erstautor ist kein Geringerer als Francis C. Crick, ja, der Nobelpreis-Crick, wie Watson and Crick – die zwei, die als junge Männer den genetischen Code »geknackt« haben. Auf seine reiferen und alten Tage ist Francis Crick Hirnforscher geworden, und er zog aus dem nebligen Cambridge ins sonnige Kalifornien. Dort fuhr er in einem weißen Rolls-Royce herum, dessen Nummernschild – Sie wissen, dass man sich in Kalifornien seine Nummernschilder ziemlich frei selbst wählen kann? –, dessen Nummernschild also »AGCT« lautete. Sonst stand nichts drauf. Wenn Sie sich auch nur ein wenig in der Molekulargenetik auskennen (2), werden Sie verstehen, dass dieses Nummernschild, weniger der Rolls-Royce selbst, dem Herrn Crick den Ruf der Arroganz einbrachte. Zu Herrn Hugo von Hofmannsthal, dem großen Wiener Poeten, soll Robert Walser mal gesagt haben: »Können Sie nicht mal für nur fünf Minuten vergessen, dass Sie so berühmt sind?« Francis Crick konnte es nicht. Er ist 2004 gestorben, Friede seiner Asche. Die Publikation über das Claustrum hat er noch auf dem Sterbebett redigiert, es war seine letzte.

Verblüffende Ähnlichkeit | Oben ist das Claustrum, eine leicht gewölbte Zellplatte, in einer Seitenansicht zu sehen. Darunter eine Karte der Vereinigten Staaten von Amerika – allerdings ohne Alaska und Hawaii. Oberer Teil der Abbildung nach Crick und Koch (2004), leicht abgeändert.


Herr Crick mag arrogant gewesen sein, aber Humor hatte er. Sehr britischen, den er sich auch als Wahlamerikaner bewahrte. Ergo stellt er in den einleitenden Absätzen seines Aufsatzes zunächst fest, dass das Claustrum eine leicht gekrümmte Zellplatte sei. Und dann merkt er trocken an, dass der Umriss – in der Aufsicht auf diese Platte – ungefähr die Gestalt der Grenzen der Vereinigten Staaten von Amerika habe. Spätestens hier wird klar: das Claustrum muss von enormer Wichtigkeit sein!

»Claustrum« – im deutschen »Kloster« lebt das Wort fort – ist lateinisch und meint »Riegel« oder »Schloss« oder auch »ein abgeschlossener, abgesicherter Ort«. Wer je nach 9/11 versuchte, in die Vereinigten Staaten einzureisen, wird die Ähnlichkeit, die Crick beobachtete, umso frappanter finden. Aber das ist Analogiedenken, gefühlsduselige Ähnlichkeitsträumerei und hat mit »hard science«, mit Reduktion auf Funktion nichts zu tun. Also: »What is the function of the claustrum?«

Das Claustrum, so meint Crick, sei die Weltbühne, der Ort des cartesischen Theaters, oder zumindest der Aufenthaltsort des Regisseurs. Was ein »cartesisches Theater« ist? Nun, der Ort, an dem das Ich sich die Welt und sich selbst betrachtet. Das ist eine ironische Hommage an René Descartes (1596–1650), der vorschlug, die Welt in erkennende (»res cogitans«, »Ich«, »Subjekt«, »Seele«) und erkannte (»res extensa«, »Gegenstände«, »Materie«, »Objekte«) Substanzen aufzuteilen. Das Claustrum als Nabel der Welt, der Brennpunkt der »Synthesis der Apperzeption«, wie der olle Kant aus Königsberg gesagt haben würde. Crick meint, dass das Claustrum ein geeigneter Ort dafür sei, vor allem, weil es mit fast allen anderen Arealen des Cortex, die irgendetwas mit »Erkennen« zu tun haben, in direkter Verbindung steht. Der vorletzte Satz von Cricks Aufsatz lautet entsprechend pathetisch: »What could be more important?«

Das schrieb Crick, wie gesagt, im Jahre 2004. Eine hurtige Übersicht über das, was man bisher auf dem Spielplan des Theaters im Claustrum so gefunden hat, spricht allerdings für ein arges Schmierenkino: nur Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll. Das Claustrum (und die Insula, die über ihm liegt) könnte eine Rolle bei der Nikotinsucht spielen, außerdem steigt seine Durchblutungsrate, wenn Männer mit erotischem und pornografischem Bildmaterial konfrontiert werden. Hochinteressant, jedoch ist das Claustrum beileibe nicht das einzige Organ, weder im Hirn noch im Rest des Leibes, dessen Durchblutung sich in diesen Situationen ändert. Und morgen, morgen schon wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben werden, auf der Suche nach Forschungsgeldern, die man nur mit hinreichend sexy Ergebnissen und Hypothesen bekommt.

Das war jetzt böse, ich versuch’s zum Schluss lieber noch mal milde und philosophisch. Der Ort des »Subjektes« im Gehirn … denken Sie mal drüber nach: Kann es überhaupt einen haben?

Stellen Sie sich doch mal eine Welt ohne Ich, Subjekte, Seelen vor. Stellen Sie sich meinetwegen Ihr zukünftiges eigenes Begräbnis vor oder eine Welt voller seelenloser Terminatoren-Roboter oder voller dumpfer Dinosaurier oder von mir aus auch einen Kosmos, in dem es nie zur Entwicklung von Leben und erkennenden Wesen gekommen ist. Das geht ganz prima, bis man merkt, dass man in all diesen erkenntnislosen Welten stets schon dabei ist: als Erkennender nämlich, als der, der sie in diesem Moment imaginiert. Und die Wirklichkeit jetzt? Denken Sie sich mal raus … geht gar nicht: Sie sind schon wieder drin, als »Sich-Rausdenkender«. Und jetzt geben Sie Ihrem »Ich« im Gehirn mal einen Ort und denken Sie: »Ich sitze hier in meinem Claustrum und begucke mir die Welt« … und, zack, schon sind Sie wieder draußen, denn um zu wissen, dass Sie im Klaustrum/Kloster/Kino sitzen, müssten Sie ja vorher schon mal draußen gewesen sein und andere Räumlichkeiten kennen. Das Claustrum wäre also nur das »Fernsehzimmer« des Subjekts – nur: Wo hat es sich vorher herumgetrieben?

Offenbar enden alle Versuche, dem Subjekt einen Ort im Gehirn (ja: überhaupt einen Ort und einen Zeitpunkt im Reich der Objekte) zuzuweisen, in höherem Blödsinn. Vornehm philosophisch gesprochen heißt so etwas eine »Aporie«. Das meint, dass man sich in weglosem Gelände gedanklich verlaufen hat, weil der Ausgangspunkt nicht stimmte, weil man in die ganz falsche Himmelsrichtung marschiert ist.

Und wie, wenn das cartesische Theater gar keinen Ort hätte? Wie, wenn das, was erkannt werden kann, und das, was erkennen kann, beide ortlos, zeitlos, formlos, wie, wenn diese beiden, sozusagen als Möglichkeiten des Erkanntwerdens und des Erkennens, schon je am Urgrund alles Seins lägen? Wie, wenn Objekt und Subjekt sich gegenseitig im Akt der Erkenntnis erst formten, dem Objekt eine Gestalt, einen Ort und eine Zeit zuweisend, dem Subjekt aber den Eindruck eines »Ich«, das dies alles wahrnimmt? Wie, wenn also, mit anderen Worten, die Welt nicht eine Ansammlung von Objekten wäre, die irgendwann mal auch ein erkennendes Subjekt hervorgebracht haben, sondern wenn sie ein System von Beziehungen zwischen Erkennendem und Erkanntem wäre, die sich gegenseitig bedingen – so dass man keins von beiden herausnehmen kann, nicht das eine in das andere setzen kann, nicht eines aus dem anderen hervorgehen lassen kann, ohne der Welt dabei den Boden unter den Füßen wegzuziehen? Wie also, wenn das cartesische Theater also gar keinen Ort hätte, wenn mithin die ganze Welt ein cartesisches Theater wäre?

Sie halten mich jetzt für völlig bekloppt? Mag sein … aber behalten Sie diesen Gedanken (3) vielleicht mal im Hinterkopf, wenn Sie Neurowissenschaftler über die »Lokalisation von kognitiven Funktionen« reden hören. Die Welt ist in Ihrem Kopf, aber Ihr Kopf ist auch in der Welt … und der Ausweg aus diesem Paradox mag tatsächlich die Einsicht sein, dass Köpfe und Welten sich gegenseitig hervorbringen.

Also: »Was ist die Funktion des Claustrum?«
Antwort: »Uns was zum Denken zu geben …«


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Fußnoten:

(1)
Crick, F.C, Koch, C. (2005): What is the function of the claustrum? Philosophical Transactions of the Royal Society London, Series B: Biological Sciences 360(1458), S. 1271-1479.

(2)
AGCT – das sind die »Buchstaben« des genetischen Alphabetes auf der DNS der Chromosomen; eigentlich Abkürzung für die organischen Moleküle (Nucleotide), deren Abfolge auf dem DNS-Faden die Information codiert: Adenosin, Guanosin, Cytidin, Thymidin. Watson und Crick fanden heraus, wie diese DNS-Fäden es fertigbringen, die Abfolge dieser Bausteine über Millionen von Kopier- und Vervielfältigungsschritten hinweg aufrecht zu erhalten. Dafür erhielten sie 1962 den Nobelpreis.

(3)
Das Ferkel, das ich hier durch’s Dorf treibe, ist eigentlich ein uraltes, ehrwürdiges, schon mehrfach geschlachtetes Borstentier, das aber mit zäher Hartnäckigkeit immer wieder aufersteht, wenn es um das Verhältnis von Kognition (Erkenntnis) zu Erkanntem geht. Sein Name ist »Idealismus«. Und das freche Schweinchen behauptet ganz einfach, dass Sie – als Erkennender – ebenso eine Bedingung für das Dasein der Welt sind wie die Gegenstände (als Erkanntes), die Sie erkennen.

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