Kolumnen: Von der Negation der Affirmation (oder: Baruch Spinoza und die Halswirbelsäule)
Der Riese Atlas muss ein athletischer Mann gewesen sein, denn sonst hätte er wohl kaum die Welt auf seinem Nacken und mit seinen Schultern stemmen können.
In geradezu hegelscher Dialektik ändert aber der Atlas sein Wesen, wenn man ihn von unten her beschaut, vom folgenden Halswirbel aus: Denn zwischen jenem und ihm findet das verneinende Hin- und Herwenden des Kopfes statt, der Atlas wird zum Negationsknochen. Der zweite Halswirbel, der "Axis" geheißen, trägt an seiner Oberseite einen zahnartigen Fortsatz, der in den ringförmigen Atlas eingreift. Um diesen "Dens axis" herum dreht sich der Atlas mitsamt dem Kopf, weswegen man den zweiten Halswirbel samt seinem Zahn manchmal auch den "Epistropheus", den "Umdreher", nennt.
Oh, die Dialektik ist aber noch subtiler! Sehen Sie sich doch den Atlas und den Epistropheus noch mal genau an – dem Atlas fehlt etwas, was der Epistropheus und auch die anderen Wirbel haben: der eigentliche Wirbelkörper nämlich. Das, worum sich der Atlas dreht, der "Dens", das ist nämlich eigentlich des Atlas' Wirbelkörper, der aber nicht mit dem Atlas selbst, sondern mit dem unter ihm liegenden Wirbel verwuchs. Mit anderen Worten: Das Gelenk der Negation geht mitten durch den Atlas selbst hindurch, es zerreißt ihn sozusagen – nur äußerlich scheint er sich affirmativ und positiv zu seinem Schicksal zu verhalten, das ihn ewig nickend an den Kopf fesselt, in seinem Innern aber rumort die Negation. Voilá, Sie sehen: Mit ein wenig gutem Willen kann man sogar die Psychologie eines Knochens beschreiben. Und wer weiß, vielleicht ist ja nicht nur das Hirn beseelt, sondern auch jedes Knöchlein, jede Faser, ja, die ganze Welt (2).
Sie schütteln den Kopf, wackeln mit Ihrem Negationsknochen und denken: "Der spinnt ..."? Mag sein. Und deshalb erlaube ich mir, in aller Freiheit, wie sie nur dem Narren eignet, zum Schluss ein Zitat von Spinoza zu verfremden: "Ihr Atlas, wenn er ein Bewusstsein hätte, würde meinen, er habe 'Nein' sagen wollen."
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) Die Fügung ins Fatum ist nun nicht jedermanns Sache, und einige bringen den Mut und die Grandeur auf, vermittels eines Strickes dem weiteren Verlauf des Schicksals Einhalt zu gebieten. Falls Ihnen diese Wortwahl zur Beschreibung des Suizids zu blumig erscheint – ich rede von der World Health Organization's International Classification of Diseases WHO ICD X70 in Kombination mit S12.1, frage mich allerdings, ob die klassifizierende Versachlichung der Angelegenheit wirklich gerechter wird.
Nun – egal.
Ein gut gemachter Suizid vermittels eines Strickes (WHO ICD X70) legt ebenfalls Zeugnis von der Stabilität der Bänder zwischen dem Atlas, dem Zahn des Axis und dem Hinterhaupt ab. Es sind nämlich nicht diese Ligamente, die reißen: Es sind die Knochen, die brechen. Wenn man's – wie gesagt – richtig macht. Und das geht so: Man muss den richtigen, dicken Henkersknoten schürzen und den nicht im Nacken, sondern unter dem Kinn platzieren. Man achte auf eine gewisse Fallhöhe (eine gute Körperlänge reicht), dann kommt es zu einer gewaltsamen Überstreckung des Kopfes. Die wiederum quittiert der Axis mit einer Fraktur der Wirbelbögen (WHO ICD S12.1), die Bruchstelle ist in der Abbildung 2 mit roten Linien markiert. Der ganze Atlas, der Körper des Axis (blau) und der Zahn (rot) bleiben am Hinterhaupt verankert, der Rest der Wirbelsäule samt dem abgebrochenen hinteren Bogen des Epistropheus rauscht nach unten, wobei gleich noch die Bandscheibe zwischen dem Axis und dem darunterliegenden (dritten) Halswirbel zerrissen wird. Letzteres wäre zu verschmerzen, wenn nicht bei dieser Gelegenheit auch das verlängerte Rückenmark, das durchs Hinterhauptsloch heraus in den Wirbelkanal vorragt, abgerissen würde. Exitus.
(2) Panpsychismus nennt man das. Baruch Spinoza (1632-1677) hat's zwar nicht erfunden, aber propagiert. "Deus sive natura ..." – "Gott und die Natur sind eins ..." – alles besteht aus dieser einen Substanz, alles ist beseelt.
"Spinoza sagt, dass der durch einen Stoß in die Luft fliegende Stein, wenn er Bewusstsein hätte, meinen würde, aus seinem eigenen Willen zu fliegen. Ich setze nur noch hinzu, dass der Stein Recht hätte." (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung)
Doch der erste Halswirbel, ebenfalls "Atlas" geheißen, ist ein zartes Gebilde. Nun – er trägt ja auch nur den Kopf und nicht die Welt, wiewohl die Kephalozentriker immer wieder behaupten, dass die Welt im Kopf sei. Und wär sie's, so trüge man an ihr nicht schwer, zumindest nicht physisch – der Atlas legt Zeugnis davon ab, er ist der kleinste aller Wirbel. Weil er eben nur den Kopf tragen muss. Nach unten hin, wo sich die Lasten des Körpers sammeln, werden die Wirbel freilich immer größer und massiver.
Der titanische Atlas der Mythologie konnte mal eben schnell weg, um dem Herakles die Äpfel der Hesperiden zu besorgen. Der anatomische Atlas kann das nicht, denn er ist mit ausgesprochen soliden Bändern am Hinterhaupt befestigt, wovon Ihnen die Anatomen, die öfter in die Verlegenheit kommen, einen Kopf abschneiden zu müssen, ein Lied singen können. Herkuleische Kräfte sind an dieser Stelle fehl am Platze, Kopfabreißen geht nicht, hier ist Feinarbeit mit einem sehr scharfen Messer entlang der Knochenkanten angesagt. Wendet man zu viel Gewalt an, ohne die Bänder vorher zu durchtrennen, sind die Knochen rasch zerbrochen, so zugfest sind die Ligamente, die Bänder, die den anatomischen Atlas an den Kopf und damit an seinen Job fesseln. Kein Entkommen ... da bleibt einem wenig mehr als positive thinking, die Fügung ins Unvermeidliche, die affirmative Einstellung zum eigenen Schicksal (siehe Fußnote 1). Und in der Tat: Der anatomische Atlas ist der Knochen der Affirmation, denn in den beiden Gelenken zwischen ihm und dem Hinterhaupt findet das Nicken des Kopfes, mithin also die Geste der Zustimmung statt. Die flachen Wannen, die Sie beiderseits am Atlas sehen, sind seine Gelenkpfannen, am Hinterhaupt finden sich zwei längsovale Höcker, die von oben her in sie eingreifen.
In geradezu hegelscher Dialektik ändert aber der Atlas sein Wesen, wenn man ihn von unten her beschaut, vom folgenden Halswirbel aus: Denn zwischen jenem und ihm findet das verneinende Hin- und Herwenden des Kopfes statt, der Atlas wird zum Negationsknochen. Der zweite Halswirbel, der "Axis" geheißen, trägt an seiner Oberseite einen zahnartigen Fortsatz, der in den ringförmigen Atlas eingreift. Um diesen "Dens axis" herum dreht sich der Atlas mitsamt dem Kopf, weswegen man den zweiten Halswirbel samt seinem Zahn manchmal auch den "Epistropheus", den "Umdreher", nennt.
Oh, die Dialektik ist aber noch subtiler! Sehen Sie sich doch den Atlas und den Epistropheus noch mal genau an – dem Atlas fehlt etwas, was der Epistropheus und auch die anderen Wirbel haben: der eigentliche Wirbelkörper nämlich. Das, worum sich der Atlas dreht, der "Dens", das ist nämlich eigentlich des Atlas' Wirbelkörper, der aber nicht mit dem Atlas selbst, sondern mit dem unter ihm liegenden Wirbel verwuchs. Mit anderen Worten: Das Gelenk der Negation geht mitten durch den Atlas selbst hindurch, es zerreißt ihn sozusagen – nur äußerlich scheint er sich affirmativ und positiv zu seinem Schicksal zu verhalten, das ihn ewig nickend an den Kopf fesselt, in seinem Innern aber rumort die Negation. Voilá, Sie sehen: Mit ein wenig gutem Willen kann man sogar die Psychologie eines Knochens beschreiben. Und wer weiß, vielleicht ist ja nicht nur das Hirn beseelt, sondern auch jedes Knöchlein, jede Faser, ja, die ganze Welt (2).
Sie schütteln den Kopf, wackeln mit Ihrem Negationsknochen und denken: "Der spinnt ..."? Mag sein. Und deshalb erlaube ich mir, in aller Freiheit, wie sie nur dem Narren eignet, zum Schluss ein Zitat von Spinoza zu verfremden: "Ihr Atlas, wenn er ein Bewusstsein hätte, würde meinen, er habe 'Nein' sagen wollen."
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) Die Fügung ins Fatum ist nun nicht jedermanns Sache, und einige bringen den Mut und die Grandeur auf, vermittels eines Strickes dem weiteren Verlauf des Schicksals Einhalt zu gebieten. Falls Ihnen diese Wortwahl zur Beschreibung des Suizids zu blumig erscheint – ich rede von der World Health Organization's International Classification of Diseases WHO ICD X70 in Kombination mit S12.1, frage mich allerdings, ob die klassifizierende Versachlichung der Angelegenheit wirklich gerechter wird.
Nun – egal.
Ein gut gemachter Suizid vermittels eines Strickes (WHO ICD X70) legt ebenfalls Zeugnis von der Stabilität der Bänder zwischen dem Atlas, dem Zahn des Axis und dem Hinterhaupt ab. Es sind nämlich nicht diese Ligamente, die reißen: Es sind die Knochen, die brechen. Wenn man's – wie gesagt – richtig macht. Und das geht so: Man muss den richtigen, dicken Henkersknoten schürzen und den nicht im Nacken, sondern unter dem Kinn platzieren. Man achte auf eine gewisse Fallhöhe (eine gute Körperlänge reicht), dann kommt es zu einer gewaltsamen Überstreckung des Kopfes. Die wiederum quittiert der Axis mit einer Fraktur der Wirbelbögen (WHO ICD S12.1), die Bruchstelle ist in der Abbildung 2 mit roten Linien markiert. Der ganze Atlas, der Körper des Axis (blau) und der Zahn (rot) bleiben am Hinterhaupt verankert, der Rest der Wirbelsäule samt dem abgebrochenen hinteren Bogen des Epistropheus rauscht nach unten, wobei gleich noch die Bandscheibe zwischen dem Axis und dem darunterliegenden (dritten) Halswirbel zerrissen wird. Letzteres wäre zu verschmerzen, wenn nicht bei dieser Gelegenheit auch das verlängerte Rückenmark, das durchs Hinterhauptsloch heraus in den Wirbelkanal vorragt, abgerissen würde. Exitus.
(2) Panpsychismus nennt man das. Baruch Spinoza (1632-1677) hat's zwar nicht erfunden, aber propagiert. "Deus sive natura ..." – "Gott und die Natur sind eins ..." – alles besteht aus dieser einen Substanz, alles ist beseelt.
"Spinoza sagt, dass der durch einen Stoß in die Luft fliegende Stein, wenn er Bewusstsein hätte, meinen würde, aus seinem eigenen Willen zu fliegen. Ich setze nur noch hinzu, dass der Stein Recht hätte." (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung)
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