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Kolumnen: Von der wilden Schönheit und ihrem Erforscher

Leopardenflecken im Gehirn
Das schönste Organ des menschlichen Körpers?

Hmm … ich wüsst’ eines.

Keines, das Sie kennen, und keines, das Ihnen – in Abhängigkeit von Neigung, Veranlagung, Vorlieben und Geschlecht – so auf Anhieb einfallen würde. Nein. Ein ganz anderes, von dem Sie noch nicht mal wissen, dass Sie es haben. Das da sind Bilder von ihm, aus dem Mikroskop.

Leopardenflecken im Gehirn | Links oben ein menschliches Gehirn, von unten betrachtet: Die Stirnseite ist oben. Das kleine rote Viereck markiert die Lage des Rinden- (Cortex-)feldes, das in den großen Mikrofotografien zu sehen ist. Sie stammen von zwei verschiedenen Personen. Es sind Aufsichten auf (etwa halbmillimeterdicke) Schnitte, die parallel (tangential) zur Oberfläche des Cortex geführt wurden. Die roten Flecken sind große Gruppen von Nervenzellen.


Toll, nicht wahr? Und wenn Sie im wahren Leben ein Lamm wären, ein Schäfchen an Harmlosigkeit – in Ihrem Inneren tragen Sie das Zeichen des Leoparden, das Fellfleckenmuster der räuberischen Großkatze. Und so, wie kein Leopardenfell dem anderen gleicht, gleichen auch Ihre inneren Leoparden einander nicht: Keine zwei sind zur Deckung zu bringen.

Nur – wo in uns sitzt die Katze? Wenn Sie mit einem Finger auf die Schläfe deuten und den anderen Finger vorne auf die Pupille setzen (Obacht! Auge vorher schließen!) und sich dann den Punkt vorstellen, wo sich die verlängerten Finger treffen: Dann haben Sie es. Im Gehirn also, da, wo es am dunkelsten ist, hinter der Augenhöhle, innen und unten am Schläfenlappen des Großhirns. Im kleinen Bild links oben, das die Basis des Gehirns zeigt, ist die Gegend rot markiert. Eigentlich sind es sogar zwei Leoparden, denn wir haben einen rechten und einen linken Schläfenlappen – aber selbst zwischen denen unterscheiden sich die Muster.

Bevor ich Ihnen erzähle, WAS man da eigentlich sieht, erzähl’ ich lieber noch ein wenig genauer, WO man es eigentlich sieht. Denn, sehen Sie: Schon der Ort, an dem es liegt, ist voller terminologischer Wunder, ein Dschungel an Begriffen, von wilden Tieren bevölkert. Passt ja auch. Wie sang schon Harry Belafonte: »In the jungle, the mighty jungle, the lion sleeps tonight.« Naja, kein Löwe in diesem Fall, aber »leopardus« heißt ja wörtlich immerhin: »der Löwenpanther«:

Das Seepferdchen | Ein Querschnitt durch die Gegend, die oben mit dem roten Viereck markiert ist: Wieder sind Zellen rot gefärbt. Das Fenster unten links zeigt den entorhinalen Cortex, der in Bild 1 in der Aufsicht zu sehen war, in nochmals stärkerer Vergrößerung. Die mit dem Sternchen markierte »Zellwolke«, aus der es (aufwärts) zu regnen scheint, entspricht einem der Zellflecken, die man in Bild 1 sah.


Das ist jetzt ein mikroskopischer Querschnitt durch die Welt des Leoparden. Das eingerollte Wesen, das oben ruht, ist das Seepferdchen, der Hippocampus. Was ein Seepferd im Dschungel soll? Keine Ahnung, aber dem menschlichen Hirn ist nichts unmöglich, schließlich kann man sich ja auch fragen, was ein Mensch auf dem Mond zu suchen hat. Das Seepferd ruht übrigens wirklich: Es liegt auf einen Kissen aus Nervenzellen, das man als »Subiculum« bezeichnet, was nichts weiter als »die Unterlage«, in diesem Falle also »die Matratze« bedeutet.

Es ruhe sanft. Aber gleich unter der Matratze lauert der Leopard, und der lässt es nicht. Was man rechts und unterhalb vom Subiculum, jetzt im Querschnitt, sieht, ist dasselbe, was im ersten Bild in einer Aufsicht gezeigt wurde. Die großen Gruppen von Nervenzellen, die in dem vergrößerten Ausschnitt mit einem Sternchen markiert sind, hängen nämlich, wie die Wolkenfelder eines halb bedeckten Himmels, untereinander zusammen, wodurch in der Aufsicht der Eindruck des Fellmusters entsteht. Die Gegend, in der sich die Wolken/das Leopardenmuster finden, heißt »Gyrus parahippocampalis«, die »Hirnwindung neben dem Seepferd«.

Der Leopard neben dem Lager des Seepferds – er lässt das Pferdchen nicht ruhen. Sein Gebiss – es hat sich schon in das Seepferd vergraben. Das dunkle, wie ein Zahn zugespitzte Zellband in Innern des Hippocampus heißt die »Fascia dentata«, das »gezähnte Band«. Und es ist wirklich die Bissspur des Raubtiers. Von den Nervenzellen in den Wolken, in den Fellflecken des Leoparden gehen nämlich Fasern aus, die die Nervenzellen in der Fascia dentata und damit das ganze Seepferd in Aufregung versetzen. Ich hab’ das mal schematisch für eine (von Millionen) von Nervenzellen eingezeichnet. Dramatischerweise heißt der Faserzug, der sich aus all diesen Nervenfasern zusammensetzt, der »Tractus perforans«, der »durchbohrende Faserzug« Rettet das Seepferd!

Nein, lieber nicht. Es ist nämlich so: Wenn die Nervenzellen im Fell des Leoparden zusammen mit dem Tractus perforans untergehen, dann ist das gar nicht gut. Zwar kehrt dann schon ein gewisser Frieden im Gehirn ein – aber es ist ein stummer, ein tödlicher Frieden: Man nennt ihn Morbus Alzheimer. Über den durchbohrenden Trakt gelangt nämlich die Information über all das, was im Großhirn so passiert, in den Hippocampus. Und dessen Aufgabe ist es (unter anderem freilich), diese Informationen so zu bearbeiten, dass sie erinnert werden können.

Doch zurück zu unserem Leoparden, ohne dessen Wildheit wir offenbar nicht das wären, was wir sind. Der furchtlose Jäger, dem wir das Wissen um die Schönheit und die Krankheit des Leoparden verdanken, es gibt ihn noch, und ich schätze mich glücklich, ihn persönlich zu kennen. Noch immer ist er auf der Jagd, ein älterer Herr, ein Seigneur, ein Mann mit Stil. Und wenn Sie ihm im finsteren Hirndschungel begegnen, dann sollten Sie – stilvoll, mit den Worten Henry Morton Stanleys – sagen: »Professor Braak, I presume?«

Nein, nie würde er’s wagen, so salopp über seine Forschungsergebnisse zu reden, wie ich das hier tu. Aber er hat mir geholfen, diese Fußnote zu seinen Forschungen zu verfassen, nicht zuletzt, weil er selber der Schönheit dessen, was er da fand, erlegen ist. Er meint übrigens, dass das Wolkenfleckenmuster, das, wie gesagt, nicht bei zwei Menschen gleich ist, etwas mit der Persönlichkeit und vielleicht sogar mit der Intelligenz zu tun habe. Ein heiterer, wolkenarmer Himmel: schlichte Gemüter. Ein dunkler, fast bedeckter Himmel: zergrübelte Intelligenzler. Aber das, so gibt er auch gleich wieder zu, ist nur so ein Bauchgefühl. Er müsst’ es noch erforschen.


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Postskriptum:
Wie üblich: Das ist alles wahr und bestens erforscht. Falls Sie sich für die generelle Anatomie des Hippocampus und des Gyrus parahippocampalis interessieren, können Sie auf irgendein Lehrbuch zurückgreifen. Die Zusammenhänge zwischen dem Morbus Alzheimer und den Zellen im parahippocampalen Gyrus haben Heiko Braak und seine leider schon verstorbene Frau Eva hier (H. Braak and E. Braak [1991]: Neuropathological stageing of Alzheimer-related changes, Acta Neuropathologica 82(4), S. 239-259) beschrieben. Ich danke Herrn Professor Heiko Braak, Frau Dr. Kelly Tredici und Herrn PD Udo Rüb für das Rohmaterial der Bilder.

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