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Kolumnen: Von Seelensorten und Seelenorten

Ein historischer Blick auf die Psyche – wobei auch der griechischen Sagenfigur gedacht wird. Sowie eine überraschende Antwort auf die Frage, warum der Hals eigentlich dünner ist als der Kopf.
(nebst einer überraschenden Antwort auf die Frage, warum der Hals dünner ist als der Kopf)

Nehmen wir mal an, der Mensch sei beseelt. Zwar gibt es Individuen und Taten, die das fraglich erscheinen lassen, aber nehmen wir’s halt mal an. Da stellt sich freilich sofort die Frage, was diese Seele, die Psyche denn sei, und wo sie eigentlich sei.

Nun, die Psyche ist zunächst mal die wunderschöne Tochter irgendeines antiken Potentaten (hat einer von denen eigentlich je eine hässliche Tochter gehabt?), die aus Gründen der Staatsräson an ein Ungeheuer verfüttert werden sollte. Kein geringerer als Amor, der Liebesgott persönlich, verguckte sich allerdings in die Dame und bewahrte sie davor, als Drachenfutter zu enden. Stattdessen gab er sich – inkognito und des Nachts im Dunkeln, wie die Götter das so zu tun pflegten – allerlei Liebesspielchen mit der Psyche hin. Die aber wollte wissen, wer ihr Retter war und zündete eines Nachts – er war wohl erschöpft neben ihr eingeschlafen – ein Öllämpchen an, um ihn in Augenschein zu nehmen. Hätte es schon Taschenlampen gegeben, wäre das Folgende nicht passiert; so aber bekleckerte Psyche den Leib des göttlichen Amor mit Lampenöl, woraufhin jener kreischend entfloh.

Amor, so lernen wir hier, ist also sicher ein Fall für den Dermatologen und den Psychiater, denn, bittschön, was sind denn das für Sperenzien? Ein bisschen Lampenöl und dann diese unsäglich peinliche Nummer als unerkannter Liebhaber – na ja, er ist halt einer der Götter, wer weiß, was die für Seelen haben. Die Psyche aber, so lernen wir weiter, ist ein handfestes, normales, praktisch denkendes Mädel: Denn wer könnte es ihr verübeln, dass sie ihrem Helden ins Gesicht sehen wollte?

Und so, ziemlich praktisch und handfest, dachten sich die alten Griechen auch die Seele selbst: als eine Art von Dampf oder Dunst nämlich, also als etwas Stoffliches, als etwas, das materialiter wirklich vorhanden ist. So ähnlich wie der Weingeist, der Alkohol im Glase: Der ist ja auch da, man riecht ihn, er tut Wirkung, aber er verflüchtigt sich, wenn man die Sache zu lange stehen lässt.

Von diesen Dämpfen (»spiritus« im Lateinischen) gibt es, so lehrte Platon, gleich drei verschiedene, und alles, was lebt, steht unter typischen Formen des Seelendampfes. Der dickste, gröbste Dunst ist der »spiritus vegetativus«, die Wachstums- und Ernährungstrieb – das ist die Seele der Pflanzen. Ein wenig subtiler schon der »spiritus animalis«, die Bewegungsseele, der Drang zur Tat, das Wollen und Begehren – das ist die Seele, die bei Tieren dazukommt. Der vornehmste, feinste Dunst, der eleganteste Seelenwind ist freilich dem Menschen vorbehalten: Bei ihm kommt noch der »spiritus rationalis«, die Seele des Erkennens, der Einsicht, der Vernunft hinzu.

Was das alles mit (Hirn-)Anatomie und Hälsen zu tun hat? Noch nichts. Aber gleich.

Seelenorte | Abbildung aus Hans von Gersdorff: »Feldtbuch der Wundtarzney«, Strassburg, 1517. Dies Buch, das sich als Anleitung für Feldärzte (es waren kriegerische Zeiten ...) verstand, war einer der Meilensteine der Anatomie, was den Realismus der Illustrationen angeht. Manches ist ganz daneben, zum Beispiel die Leber, die nie und nimmer so gelappt ist. Das Zwerchfell (»diafragma«) ist auch keine quere Platte, sondern eher eine nach oben gewölbte Kuppel, aber so im Großen und Ganzen stimmt die Sache.


Diese Seelen, sagt Platon, haben nämlich Orte, es gibt also eine Anatomie der Seele! Und weil von Platon nur Worte, aber keine Bilder überliefert sind, illustriere ich die Seelenorte und Platons Interpretation der menschlichen Anatomie mit einer Abbildung aus Hans von Gersdorffs »Feldtbuch der Wundtarzney« von 1517. Platons Vorstellungen von der Anatomie des menschlichen Körpers dürften dieser Abbildung recht nahe gekommen sein.

Der »spiritus vegetativus« haust natürlich im Magen und den Därmen, denn – wer wollte das bezweifeln – dort empfindet man den Hunger, dort bläht die pralle Sättigung schmerzhaft die Organe. Der »spiritus animalis«, das Streben, das Wollen, die eleganteren Triebe also, die residieren freilich im Herzen. Wer kennt es nicht, das Flattern, die ängstlichen oder freudvollen Stolpereien des Herzens, wenn man sich in Amors Rolle der Psyche (oder vice versa) nähert? Sehen Sie: Und jetzt verstehen Sie auch, wozu das Zwerchfell gut ist. »Nur ein Atemmuskel«, sagen die neuzeitlichen Anatomen. Wie fade, welch langweilige mechanistische Denke! Das Zwerchfell, sagt Platon dagegen, verhindert, dass der dicke Seelendampf, der aus den Därmen dunstet, zum Herzen aufsteigt und dessen feinere Triebe verdunkelt.

Das Hirn aber, der Kopf und das Hirn sind natürlich der Sitz der vornehmsten aller Seelen, des »spiritus rationalis«. Und der wiederum muss vor den leidenschaftlichen Dünsten des Herzens geschützt werden. Deshalb ist der Hals so dünn. Damit die Leidenschaften, wie durch einen engen Kamin, nur maßvoll räuchernd von der Brust zum Kopfe aufsteigen. Und wieder geben der Augenschein und die Alltagserfahrung dem Platon recht: Schwillt uns nicht im Zorn der Hals? Sind es nicht gerade die dick- und kurzhalsigen Choleriker, denen die Wut ungehindert vom Herzen zum Hirne steigt, und sind es nicht die dünnblütigen, dünnhalsigen Melancholiker, die vor lauter »spirtitus rationalis« nicht mehr wissen, was herzliche Lebenslust ist?

Ich muss zugeben, dass Platons Ansichten zu Seelenorten und Seelensorten nicht mehr so ganz dem momentanen Stand der Neurowissenschaften und der Philosophie genügen. Aber dies ist ja auch der Winkel des nutzlosen Wissens.

Neuerdings ist man statt dessen zu der Ansicht gelangt, dass die Seele selbst ein nutzloses Organ sei. Genauer: manche meinen, dass schon das Wort »Seele« ins Leere ginge, weil es das nicht gäbe, was es zu bezeichnen vorgibt – die Seele nämlich. Der Begriff von der Seele sei »nur ein weiterer Mythos, nicht nur an den Rändern, sondern schon im Kern falsch.« (aus: Paul M. Churchland, The engine of reason, the seat of the soul: a philosophical journey into the brain. MIT Press, Cambridge, 1995, S. 17; Übersetzung von mir)

Arme Psyche. Es scheint also doch zu stimmen: Der Mensch ist nicht beseelt. Was machen dann nur all die Psychiater, all die Psychologen, woran leiden wir, wenn wir an der Seele leiden? An einer Begriffsverwirrung? Andererseits muss ich zugeben, dass die Annahme, dass der Mensch keine Seele habe, bei der Betrachtung der Historie und Gegenwart des Menschengeschlechts auch nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Zumindest die Behauptung eines »spiritus rationalis« könnte eine zu kühne Hypothese sein.

Ach, ist das voller Galle. Deren Existenz wird übrigens von niemandem angezweifelt. Sogar von Gersdorff bildet die Gallenblase (»die gall«) am rechten Ort, gleich unter der Leber ab. Sodann: behelfen wir uns mit gallenbitteren Anmerkungen, wenn uns die zuckersüßen Verlockungen der wunderhübschen Psyche verwehrt bleiben.


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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