Freistetters Formelwelt: Mathematik enthüllt die Gestalt von Sternen

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Den Namen Edvard Hugo von Zeipel kennen vermutlich die wenigsten Menschen. Der 1873 geborene schwedische Astronom hat keine Weltbilder revolutioniert, so wie Galileo Galilei, Nikolaus Kopernikus oder Johannes Kepler. Er hat keine revolutionären Entdeckungen gemacht, so wie Edwin Hubble oder Vera Rubin, und auch keine populärwissenschaftlichen Bestseller geschrieben, so wie Stephen Hawking. Aber er hat im Jahr 1924 als Erster eine überraschende Eigenschaft von Sternen mathematisch beschrieben, die äußerst relevant ist, wenn man diese Himmelskörper verstehen will. Dieser als »Von-Zeipel-Theorem« bezeichnete Zusammenhang lässt sich in seiner kürzesten Form folgendermaßen darstellen:
Von Zeipel hat die effektive Temperatur eines Sterns, also vereinfacht gesagt die Temperatur seiner äußersten Gasschichten, mit der lokalen effektiven Gravitation verknüpft. Ein Stern ist, in der einfachsten Näherung, eine leuchtende Kugel. In der Realität weicht die Form eines Sterns aber natürlich von der einer perfekten Sphäre ab. Grund dafür ist die Rotation, die zu einer Abplattung an den Polen führt. Dieser Effekt ist umso stärker, je schneller die Drehgeschwindigkeit ist. Die daraus resultierende größere Fliehkraft am Äquator des Sterns wirkt der Gravitation entgegen und verringert die dortige effektive Schwerkraft. Das wiederum bedeutet, dass dort auch der Druck auf die darunterliegenden Gasschichten geringer ist – und damit die lokale Temperatur. Genau dies beschreibt von Zeipels Theorem.
Und die Auswirkungen lassen sich sogar beobachten. Da die effektive Temperatur die Helligkeit bestimmt, sieht man bei schnell rotierenden Sternen ein Phänomen, das »gravity darkening« genannt wird: Um den Äquator herum ist die Helligkeit des Sterns geringer als in den Polarregionen.
In seinem mathematischen Modell gab von Zeipel den Parameter β noch explizit mit ¼ an. Das gilt allerdings nur für vergleichsweise langsam rotierende Sterne. Wenn die Drehgeschwindigkeit schneller ist, muss der Exponent angepasst werden, wie Arbeiten in den letzten Jahrzehnten gezeigt haben. Die Abhängigkeit der Sternhelligkeit von der lokalen Gravitation ist aber weiterhin gültig und relevant.
Suche nach Exoplaneten
Wenn man in der Astronomie zum Beispiel nach extrasolaren Planeten sucht, verwendet man dabei meistens die sogenannte Transitmethode: Man beobachtet die Helligkeit eines Sterns und hofft, periodische Verdunkelungen zu beobachten, die entstehen, wenn ein Planet von uns aus gesehen einen Teil des Sternenlichts blockiert. Berücksichtigt man dabei aber nicht die unterschiedliche Helligkeit der Sternoberfläche für verschiedene Breiten, verfälscht das die Ergebnisse.
Und auch in anderen Bereichen muss von Zeipels Theorem einbezogen werden. Mit interferometrischen Methoden kann man die Helligkeitsverteilung an der Oberfläche naher und großer Sterne direkt beobachten. Abweichungen von der Vorhersage durch von Zeipels Theorem liefern Hinweise auf komplexe Vorgänge wie eine ungleichmäßige Rotation des Sterns oder die Konvektionsströme des Plasmas in seinem Inneren. Bei engen Doppelsternsystemen kann die Gravitationskraft des einen Sterns die effektive Gravitation an der Oberfläche des anderen lokal verändern, was sich ebenfalls mit den modernen Variationen des Von-Zeipel-Theorems verstehen und analysieren lässt.
Die simple Formel, die Edvard Hugo von Zeipel vor gut 100 Jahren aufgestellt hat, beschreibt die Realität der Sterne zwar nicht komplett. Aber sie hat uns ein weiteres Mal gezeigt, wie komplex Sterne wirklich sind. Mit unseren menschlichen Augen sehen wir sie nur als leuchtende Punkte. Aber die Augen der Mathematik sehen sehr viel mehr.
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