Freistetters Formelwelt: Die selbstvergiftete Mathematik des Bierbrauens

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Ob wir Wachstum als gut oder schlecht ansehen, hängt davon ab, was es ist, das da wächst. Wenn es um das Geld auf dem Konto geht oder die Tomaten im Garten, dann freuen wir uns, wenn alles immer mehr wird. Bei Tumorzellen oder Atommüll ist Wachstum eher kein Grund für Freude. Unter gewissen Umständen kann man auch positives und negatives Wachstum gleichzeitig haben. Das, was wachsen soll, erzeugt dabei gleichzeitig etwas, das nicht wachsen soll. Dieser Vorgang des »selbstvergifteten Wachstums« kann durch folgende Formel beschrieben werden:
Eine Population P entwickelt sich ausgehend von einem Anfangsbestand P(0) in Abhängigkeit einer für den jeweiligen Fall relevanten Wachstumskonstanten k. Gleichzeitig wird im Lauf der Zeit von der Population selbst aber ein »Gift« hergestellt, das dem Wachstum entgegenwirkt und dessen Einfluss in der Formel durch die Vergiftungskonstante c beschrieben wird. Es gibt viele Gründe, sich mit dieser Art des Wachstums mit Selbstvergiftung zu beschäftigen. Einer davon hat mit etwas zu tun, das wir alle aus dem Alltag kennen.
Will man Bier brauen, braucht man dazu Hefezellen, die den Zucker in der Bierwürze durch ihren Stoffwechsel in Alkohol und Kohlendioxid umwandeln. Das ist genau das, was wir für das Bier wollen; aus Sicht der Hefezellen ist es aber unangenehm, in einer immer alkoholischer werdenden Flüssigkeit zu leben. Alkohol ist – für Menschen wie Hefe – ein Zellgift. Wird die Konzentration zu groß, dann stirbt die Hefe. Man kann dem mit speziellen Hefesorten ein bisschen entgegenwirken, aber spätestens bei 20 Prozent Alkohol ist Schluss mit der Gärung. So viel Alkohol will man aber normalerweise sowieso nicht im Bier haben. Und wenn doch, dann muss man sich anderer Methoden bedienen. Die stärksten Biere der Welt haben über 60 Prozent Alkohol, der aber dann nicht mehr durch Hefezellen produziert wird. Stattdessen verwendet man Destillationsverfahren, um den Alkoholgehalt zu erhöhen.
Toxine in der Welt
Zum Bierbrauen ist ein Modell zur Entwicklung der Hefepopulation durchaus praktisch. Aber wir würden es auch ohne Mathematik schaffen (und haben das ja bereits für Jahrtausende getan). Deutlich relevanter wird die Erforschung solcher Populationsdynamiken, wenn es um uns Menschen geht und die Toxine, die wir in unsere Umwelt einbringen. Sie stammen zwar im Allgemeinen nicht direkt aus unserem Stoffwechsel, aber dadurch, dass wir so leben, wie wir es derzeit tun, reichern wir die Welt mit für uns giftigen Stoffen an. Entweder direkt, wenn es zum Beispiel um chemischen oder atomaren Müll und um Feinstaub in der Luft geht. Oder indirekt, wenn wir etwa die Atmosphäre mit Treibhausgasen anreichern oder die Ozeane mit Mikroplastik.
Auch diese Vorgänge lassen sich – mit komplexeren Modellen – mathematisch beschreiben. Die Resultate zeigen, wie die verschiedenen Effekte zusammenwirken, je nachdem, wie verzögert die Wirkung der Toxine eintritt, wie viel sich davon akkumulieren muss, ob die Menge der Giftstoffe im Lauf der Zeit von allein zurückgeht oder nicht und so weiter.
Solche Informationen sind wichtig, wenn wir uns mit Abfallmanagement beschäftigen oder neue chemische Prozesse für die Industrie entwickeln. Aber auch ohne Mathematik sollte klar sein, dass es keine sonderlich gute Idee ist, die Welt, in der wir leben, mit giftigen Stoffen anzureichern. Beim Bier haben wir zumindest noch die Wahl, ob wir uns dem Zellgift Alkohol aussetzen wollen oder nicht. Wenn es allerdings um unsere Umwelt geht, können wir nicht so einfach anderswohin ausweichen.
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