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Warkus' Welt: Keine Panik, dem Grundgesetz geht es gut!

Klimaaktivisten haben das Kunstwerk »Grundgesetz 49« vor dem Deutschen Bundestag mit Farbe beschmiert. Ein Angriff auf die Verfassung? Wohl kaum, meint unser Kolumnist. Wer die Aktion so wertet, will sie missverstehen.
Kunstwerk »Grundgesetz 49«, das von Klimaaktivisten mit dunkler Flüssigkeit begossen und mit Plakaten beklebt wurde. Auf diesen steht zum Beispiel »Erdöl oder Grundrechte?«. Im Vordergrund laufen Passanten vorbei, die nur verschwommen zu sehen sind.
»Erdöl oder Grundrechte?« Klimaaktivisten der »Letzten Generation« beschmierten das Kunstwerk »Grundgesetz 49« im Berliner Regierungsviertel Anfang März 2023 mit einer dunklen Flüssigkeit und beklebten es mit Plakaten.

Am 4. März 2023 haben Klimaaktivisten der »Letzten Generation« wieder einmal für Schlagzeilen gesorgt. Ins Visier der Gruppe war an diesem Tag ein Kunstwerk geraten, das viele Menschen vorher gar nicht gekannt haben dürften: An einem der Bürogebäude des Bundestags bildet zur Spree hin eine drei Meter hohe Glaswand die Absperrung zum öffentlichen Raum, in die – passend für ein hohes politisches Organ in Deutschland – der Text des Grundgesetzes eingraviert ist. Das Kunstobjekt trägt den Namen »Grundgesetz 49« und wurde vor gut 20 Jahren von dem israelischen Künstler Dani Karavan geschaffen.

Mitglieder der »Letzten Generation« übergossen diese Glasplatten mit dem Verfassungstext mit einer dunklen Flüssigkeit, die optisch an Erdöl erinnern sollte. (Tatsächlich handelte es sich dabei um gefärbten Tapetenkleister.) Nach eigener Aussage der Verantwortlichen wollte man damit veranschaulichen, dass die weitere Nutzung von Erdöl und anderen fossilen Energieträgern nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar sei, da der menschengemachte Klimawandel die Rechte bedroht, die die Verfassung eigentlich schützt.

Es ist beachtlich, wie sehr die Protestaktion trotz der quasi unmittelbar beigefügten Erläuterung missverstanden wurde. Dabei geht es mir gar nicht darum, dass eine ganze Weile auch in der Presse die falsche Information verbreitet wurde, bei der Flüssigkeit habe es sich wirklich um Erdöl gehandelt. Und auch nicht darum, dass der eine oder andere behauptet, es sei Kunst zerstört worden – das war nun offensichtlich nicht der Fall, inzwischen sind die Glaswände schließlich wieder sauber und bleibende Schäden sind nicht entstanden.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Bemerkenswert ist vielmehr, wie viele Stimmen aus der Politik und den Medien den Aktivisten vorwarfen, einen Angriff auf das Grundgesetz verübt zu haben. Das ist, wenn man näher darüber nachdenkt, ein wenig kurios. »Das Grundgesetz« ist immerhin kein einzelner materieller Gegenstand, den man beschädigen könnte: Es ist ein Text, der nicht nur massenhaft auf Papier und in Inschriften verbreitet ist, sondern auch an verschiedensten Stellen online nachgelesen werden kann. Fachsprachlich gesagt: Das Grundgesetz ist kein »Token«, sondern ein »Type«. Selbst wenn man akzeptiert, dass eine Beschädigung des Originaltextes einen Angriff auf das Grundgesetz an sich darstellen könnte, ist das Original in diesem Fall nicht die Glaswand an der Spree, sondern die Urschrift, die zur Vereidigung von Bundeskanzlern und Bundespräsidenten aus dem Tresor geholt wird. Zudem hat sich der Text des Grundgesetzes seit seiner Verkündung 1949 fast jährlich geändert, nämlich insgesamt 67-mal.

Das »Grundgesetz 49« ist nur das Symbol eines Symbols

Die Aktion der »Letzten Generation« als Angriff auf die Verfassung oder gar auf Rechte und Werte zu beschreiben (die mit der Verfassung nicht identisch sind), scheint auf mehreren Ebenen eine Verwechslung von Zeichen und Bezeichnetem zu sein. Der Vorstellung scheint ein fast religiöses oder besser magisches Denken zu Grunde zu liegen, was schon allein schon deswegen bedenklich ist, weil diese Art des Denkens in unserer Gesellschaft üblicherweise eher mit den Feinden einer rationalen Gesellschaftsordnung assoziiert ist als mit ihren Freunden.

Was die Sache endgültig ärgerlich macht, ist, dass dieses quasireligiöse oder magische Denken hier sozusagen aus dem Nichts kommt. Anders als zum Beispiel in den USA, wo es eine – aus verschiedenen Gründen hochproblematische – Tradition gibt, die Verfassung als eine Art heiligen Text zu verehren, gibt es in Deutschland nicht einmal ansatzweise eine Sakralisierung des Grundgesetzes. Den symbolischen Angriff auf ein Symbol (oder eher noch: ein Symbol eines Symbols) als »Schändung« und »Zerstörung« zu bezeichnen, ist nicht nur weit hergeholt. Diejenigen, die mit dieser Sprache operieren, unterstellen anscheinend, dass das Publikum, das sie damit empören wollen, zu keiner Differenzierung fähig ist und sich durch ein Pathos agitieren lässt, das völlig aus der Luft gegriffen ist.

Die »Letzte Generation« muss sich zu Recht vorwerfen lassen, dass ihre Aktion nicht ohne Weiteres verständlich ist. Oder wie Lenz Jacobsen in der »Zeit« schreibt: »Aktionskunst, die man nur mit Beipackzettel versteht, ist so eine Sache.« Die Gruppe mag ein öffentliches Kunstwerk aus etwas schrägen Gründen vollgekleistert haben. Aber diese Aktion erzürnt als Angriff auf die Verfassung zu beschimpfen, ist letztlich eine intellektuelle Beleidigung des Volks.

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