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Freistetters Formelwelt: Warum »lebendige Energie« nichts mit Esoterik zu tun hat

Der Begriff »lebendige Energie« klingt nicht besonders wissenschaftlich. Tatsächlich geht es dabei aber um ein Grundprinzip der modernen Physik und eine zentrale Gleichung in der Himmelsmechanik.
Hand mit Pendel, im Hintergrund stehen Kerzen und bunte Steine liegen auf einem Tisch
Manchmal werden in esoterischen Kreisen physikalische Begriffe eingesetzt. Die lebendige Energie ist aber ein naturwissenschaftliches Konzept – auch wenn es anders klingt.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Als ich während meines Studiums das erste Mal mit der »Vis-Viva-Gleichung« in Kontakt gekommen bin, habe ich mich ein bisschen über den seltsamen Namen gewundert. »Vis viva«, die lebendige Kraft: Was hat das mit dem zu tun, was die Formel aussagt?

v2=G(M+m)(2r1a)

Hier wird die momentane Bahngeschwindigkeit v eines Körpers mit der Masse m beschrieben, der ein Zentralobjekt mit der größeren Masse M auf einer Bahnellipse mit der großen Halbachse a umkreist und den momentanen Abstand r hat. Wenn man zum Beispiel die Bewegung der Erde um die Sonne betrachtet, die einer Ellipse mit einer großen Halbachse von 149,598 Millionen Kilometer folgt und am sonnennächsten Punkt der Bahn einen Abstand von 147,095 Millionen Kilometer hat, dann berechnet sich (mit der Gravitationskonstante G) ihre Geschwindigkeit zu diesem Zeitpunkt zu 30,3 Kilometer pro Sekunde.

Im sonnenfernsten Punkt (bei einem Abstand von 152,1 Millionen Kilometer) sind es 29,29 Kilometer pro Sekunde. Das ist genau das, was die keplerschen Gesetze über die Bewegung von Himmelskörpern sagen: In der Nähe der Sonne sind sie schneller als weiter entfernt. Und tatsächlich kann man die Vis-Viva-Gleichung auch ohne großen mathematischen Aufwand aus Keplers Gesetzen und der Energie- und Drehimpulserhaltung ableiten.

Leibniz versus Newton

Aber was hat es mit dem Namen auf sich, der mehr nach Mystik und Alchemie klingt als nach Wissenschaft? Der Begriff »vis viva« geht auf das 17. Jahrhundert und Gottfried Wilhelm Leibniz zurück. Er hat Stoßprozesse untersucht und dabei festgestellt, dass in den aufeinanderstoßenden Objekten eine Art Kraft steckt, mit der sie beim Aufprall Arbeit verrichten können, also zum Beispiel andere Objekte bewegen oder verformen. Seiner Meinung nach war diese Kraft proportional zur Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit der Objekte. Außerdem stellte Leibniz fest, dass diese Größe bei den Stößen erhalten bleibt und hat ihr daher eine für die Bewegung grundlegende Rolle zugeschrieben.

Sein Zeitgenosse Isaac Newton sah das anders. Für ihn war der Impuls eines Objekts die ausschlaggebende Größe – und der Impuls ist das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit. Oder anders gesagt: Während für Leibniz das Quadrat der Geschwindigkeit relevant war, ging bei Newton die Geschwindigkeit nur linear ein. In der Fachwelt gab es lange Zeit keine Einigkeit. Newton hat Recht, sagten die einen, weil jede Kraft eine Änderung des Impulses ist. Nein, Leibniz liegt richtig, sagten die anderen, denn die wahre Größe, um Bewegung zu beschreiben, ist die Energie, die in der Bewegung steckt.

Aus heutiger Sicht mutet der Streit seltsam an. Wir wissen, wie zentral der Impuls für ein Verständnis der Bewegung ist. Wir wissen aber auch, wie wichtig die in der Bewegung steckende Energie ist, die Leibniz beschrieben hat und die (bis auf einen Faktor ½) der modernen Definition der kinetischen Energie entspricht. Es sind eben nur unterschiedliche Größen, die unter verschiedenen Bedingungen erhalten bleiben.

Aber im 17. Jahrhundert war man gerade erst dabei, Konzepte wie Energie, Kraft oder Arbeit grundlegend zu verstehen und voneinander abzugrenzen. Und selbst im Jahr 1749 wollte noch Immanuel Kant mit seinem Buch »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« die Debatte um »vis viva« auflösen. Das moderne Verständnis der Energie hat sich erst im 19. Jahrhundert entwickelt; die Gleichung, die ausgehend von der Energieerhaltung die Bahngeschwindigkeit eines Himmelskörpers beschreibt, hat den alten Namen »vis viva« behalten. Sie wird heute unter anderem verwendet, um die Bahnen von Satelliten und Raumsonden zu beschreiben. Denn am Ende kommt es auf die Mathematik an und nicht die Bezeichnung der Formel.

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