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Sex matters: Warum man niemanden zu einer Sexparty überreden sollte

Sexuelle Offenheit ist schön und gut. Doch es ist keine gute Idee, wenn die Partnerin nur ihm zuliebe mitmacht, sagt der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller. Eine Kolumne.
Eine Frau sitzt zwischen zwei Männern auf einem Sofa. Sie trägt ein kurzes weißes Kleid und schwarze High Heels und hat ein Bein zwischen die Beine ihres linken Nachbarn gelegt. Ihre rechte Hand ruht auf dem Oberschenkel des rechts von ihr sitzenden Mannes. Bei Männer tragen Jeans und Hemd. Die Szene ist hell beleuchtet und vermittelt eine entspannte Atmosphäre.
Offen für neue Kontakte, während der Partner danebensitzt: nicht jedermanns Sache.

»Neulich haben wir überlegt, auf eine Sexparty zu gehen. Das reizt uns. Freunde von uns haben das schon gemacht und fanden es super. Ich habe die Karten besorgt, doch dann hat meine Frau es sich plötzlich anders überlegt. Das fand ich schade, aber natürlich habe ich das akzeptiert. Irgendwie hat es uns aber nicht losgelassen. Jetzt wollen wir einen neuen Anlauf machen. Oder ist das keine gute Idee?« (Stefane*, 44, und Tatjana*, 41)

Sexpartys. Ein Experimentierfeld. Eine Veranstaltung, auf der Menschen feiern und einvernehmlich Sex haben – zum Beispiel in Gruppen, mit wechselnden Partnern oder um andere beim Sex zu beobachten beziehungsweise sich selbst beobachten zu lassen. ​​​​​​​​​​​​​​​​Wie viele Menschen tatsächlich hingehen, ist unklar – verlässliche Zahlen gibt es nicht. In Umfragen finden viele Paare die Vorstellung reizvoll, aber ich bin sicher: Im echten Leben ist der Schritt von der Couch in den Klub riesig. Deswegen sitzen regelmäßig Paare wie Stefane und Tatjana in meiner Praxis. Sie wollen Sexpartys ausprobieren, dafür jedoch bloß nicht die Beziehung riskieren. Für sie geht es vor allem um eins: Was können wir tun, damit die Sexparty eine positive Erfahrung wird, die uns verbindet – und nicht auseinandertreibt?

Fangen wir vorn an: beim Wunsch. Ein Wunsch ist reine Fantasie, und in unserem Kopf sehen Sexpartys aus wie Hollywood-Produktionen. Das Licht ist perfekt schummrig, das Interieur ein Traum, es duftet nach Wellness und teurem Parfum. In den Gängen wandeln wunderschöne Menschen, die wie durch Magie immer das Richtige sagen und tun. Alles kann, nichts muss. Lust pur.

Sorry, wenn ich jetzt ein Spielverderber bin: Aber die Realität sieht meist ganz anders aus. Sie ist nicht verführerisch, sondern unappetitlich. Abwischbare Kunstledersofas, schwitzende Menschen und peinliche Sprüche. Auf den Partys reiht sich eine unplanbare Situation an die andere. Und genau deshalb beginnt der Abend nicht erst mit dem Eintritt, sondern schon Wochen vorher – mit einem Vorgespräch.

Wollen Sie nur gucken – oder auch anfassen?

Stefane und Tatjana wollten einen »neuen Anlauf«. Bei mir in der Praxis beginnt der ganz unsexy: am Flipchart. Ich schreibe Fragen auf. Fragen, die das Kopfkino erden. Welche Art von Party soll es sein? Mit welcher Idee gehen Sie beide dorthin? Wollen Sie nur gucken – oder auch anfassen? Wollen Sie mit jemand anderem Sex haben? Darf Ihr Partner mit jemand anderem Sex haben?

Dann lasse ich beide schreiben. Getrennt voneinander. Das ist entscheidend. Nur so traut sich jeder, ehrlich zu sein, ohne auf die Reaktion des anderen zu schielen. Paare können danach klar erkennen, wo sich die Vorstellungen decken – und wo nicht.

Das Ergebnis fiel bei Stefane und Tatjana unterschiedlich aus: Stefane konnte sich vorstellen, andere Frauen anzufassen. Sex wollte er keinen. Tatjana auch nicht, allerdings wollte sie auch niemand Fremden anfassen, sondern am liebsten nur gucken. Tatjana hatte also andere Bedürfnisse als Stefane. Und andere Grenzen. Die sie eigentlich bereits ziemlich unmissverständlich ausgedrückt hatte. Doch dann passierte das, was ich oft beobachte: Die Verhandlungen begannen.

»Wirklich nur anschauen?«, hakte Stefane nach. »Ich würde ja keinen Sex haben. Einfach nur anfassen.« Tatjana zögerte. Dann kam ein vorsichtiges Nein: »Hm. Eigentlich eher nicht.«

»Aber überleg mal«, sagte Stefane. »Warum sollten wir auf eine Sexparty gehen, wenn wir nur gucken? Dann könnten wir ja genauso gut zu Hause Pornos schauen.« Sanfte Überredungsstimme bei ihm. Nachdenkliches Schweigen bei Tatjana. Blicke hin und her. Und dann Tatjana: »Okay. Aber wirklich nur anfassen.«

Wer überreden will, sieht die Grenze des anderen nicht. Oder er akzeptiert sie nicht

In solchen Momenten drücke ich die Stopptaste. Was hier passiert, ist kein Aushandeln. Sondern Überreden. Und das kann in einer Grenzüberschreitung münden – wenn es nicht schon eine ist. Wer überreden will, sieht die Grenze des anderen nicht. Oder er sieht sie, will sie aber nicht akzeptieren, der Partner wird bedrängt. Stefane überschreitet Tatjanas Grenze – ob bewusst oder nicht, ob es »böse« gemeint ist oder nicht, all das spielt keine Rolle. Die Botschaft ist: »Ich höre deine Grenze, aber sie gefällt mir nicht. Bitte verschieb sie für mich.«

Das hat nichts mit einer geteilten Offenheit für neue Erfahrungen zu tun. Im Gegenteil: Einer will was, und die andere Person soll sich fügen. 

Aus einem klaren »Nein« wird ein wackeliges »Na gut«

In meiner Praxis sind es eher Frauen, die ihre Grenzen verschieben. Für ihren Partner. Männer stehen in der Beratung viel vehementer für ihre Bedürfnisse ein. Die Forschung belegt das: Frauen machen häufiger als Männer sexuelle Zugeständnisse. Sie machen bei sexuellen Aktivitäten mit, die sie sich nicht wirklich wünschen. Viele Frauen tun das, um die Harmonie zu wahren oder den Partner nicht zu enttäuschen. Aus einem klaren »Nein« wird ein wackeliges »Na gut«. In einer US-amerikanischen Studie beschreibt eine Teilnehmerin das so: »Ich mache mit, auch wenn ich mich eigentlich nicht danach fühle.«

In so einem Moment ist es hilfreich, einen Schritt zurückzugehen. Weil Sex nur dann Sex ist, wenn er einvernehmlich stattfindet. Wenn Paare ein klares gemeinsames »Ja« finden – und eben kein halbherziges »Na gut«. Alles andere ist kein Sex – weil Grenzen überschritten werden. 

Ich habe Tatjana gefragt, woher ihre Meinungsänderung kam. Gab es ein neues Argument? Eine Veränderung? Eine Erklärung? Fehlanzeige. Sie hatte lediglich ihre Grenze verschoben, damit Stefane zufrieden war. Einfach nur für ihn. Ohne es selbst zu wollen. Als Stefane das realisierte, war er erschrocken. Er wollte seine Frau nicht überfahren. Er wollte Spaß mit ihr, keinen Stress.

Was also tun? Die Sexparty, wegen der sie eigentlich gekommen waren: War das noch eine Option? Oder ein No-Go?

Ich habe die beiden gebeten, noch mal auf ihre Zettel zu schauen. Weil da die Antwort stand: »zuschauen«. Fremden Menschen beim Sex zuzusehen – das fanden beide reizvoll. Sie hatten einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Und sie waren sich einig, dass sie das gern in Wirklichkeit erleben wollten. Um danach in Ruhe zu überlegen, wie es war und ob sie irgendwann einen Schritt weiter gehen würden.

* Namen geändert

Jetzt sind Sie dran!

Entwerfen Sie ein »Wunsch-Drehbuch« im Kopf: Überlegen Sie sich etwas, das Sie gern ausprobieren möchten. Es kann etwas Sexuelles sein oder etwas aus einem anderen Lebensbereich, zum Beispiel eine ganz normale Silvesterparty. Schließen Sie die Augen. Wie ist Ihre Rolle in Ihrem Drehbuch? Was genau machen Sie? Und was sollte in Ihrem Film auf gar keinen Fall passieren? Stellen Sie sich konkret vor, was Sie möchten und wo Ihre Grenzen liegen.

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  • Quellen
Herbenick, D. et al., The Journal of Sexual Medicine 10.1111/jsm.12625, 2014

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