Freistetters Formelwelt: Warum null und unendlich manchmal besonders einfach sind

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Ich hatte kürzlich ein wenig Langeweile und anstatt dann wie üblich einfach auf mein Smartphone zu schauen, habe ich es zur Abwechslung mal mit einem Taschenrechner probiert. Das Display ist dort zwar wesentlich kleiner, aber man findet trotzdem jede Menge Ablenkung. Mir ist eine Taste aufgefallen, mit der man die n-te Wurzel einer Zahl berechnen kann. Ich wusste zwar, dass mein Taschenrechner so etwas kann, aber im Alltag komme ich mit Quadrat- und Kubikwurzeln aus (für die gibt es eigene Tasten).
Aber jetzt wollte ich ein wenig damit herumspielen und habe zuerst die vierte Wurzel aus 4 berechnet. Und dann die fünfte Wurzel aus 5, die sechste Wurzel aus 6, und so weiter. Die Ergebnisse liegen alle nahe bei 1 und scheinen sich diesem Wert sogar anzunähern, je größer n wird. Ich habe mich gefragt, ob das auch streng mathematisch gilt. Dazu muss man den Grenzwert der Folge n-te Wurzel aus n für den Fall eines unendlich wachsenden n berechnen. Aber wie?
Nach ein wenig Suche in meiner Formelsammlung bin ich auf den Satz von Stolz-Cesàro gestoßen:
Benannt ist die Formel nach dem Österreicher Otto Stolz und dem Italiener Ernesto Cesàro, die zwar nicht zusammen daran gearbeitet haben, aber Ende des 19. Jahrhunderts unabhängig voneinander zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt sind. Man kann mit ihrem Satz den Grenzwert des Verhältnisses zweier Folgen an und bn berechnen. Die Formel gilt allerdings nur, wenn die Grenzwerte der Einzelfolgen gleich 0 sind und die Folge bn monoton fallend ist. Oder aber bn ist monoton steigend und der Grenzwert von bn geht gegen unendlich. Wenn dann auch noch der Grenzwert der Differenzfolge existiert, kann man den Satz von Stolz-Cesàro wie angegeben verwenden.
Ihn auf das Problem meiner Wurzelfolge anzuwenden, ist nicht ganz trivial, aber auch nicht allzu schwer. Die n-te Wurzel lässt sich ja auch als Potenz schreiben und mit Hilfe des Logarithmus umformen: Der Logarithmus der Folge ist dann gleich dem Logarithmus von n, geteilt durch n. Ich kann also im Satz von Stolz-Cesàro \(a_n=\text{ln}(n)\) und \(b_n=n\) setzen, mich vergewissern, dass alle Voraussetzungen erfüllt sind und dann den Grenzwert berechnen. Man muss dazu allerdings noch die Taylorreihenentwicklung des Ausdrucks ln(1+x) kennen, am Ende nicht vergessen, alles wieder aus der logarithmischen Schreibweise zurückzutransformieren und wird dann feststellen, dass der Grenzwert tatsächlich gleich 1 ist.
Die Lücke schließen
Das alles im Detail nachzurechnen ist, wie gesagt, nicht trivial, aber mit ein paar grundlegenden Kenntnissen der höheren Mathematik durchaus möglich. Das hier vorzuführen, ist aber gar nicht mein Anliegen. Ich fand es zwar schön, meine Vermutung auch mathematisch exakt bestätigt zu sehen, habe mich aber vor allem gefreut, den Satz von Stolz-Cesáro entdeckt zu haben. Er hat mich sofort an einen meiner Lieblingssätze aus der Mathematik erinnert, nämlich die Regel von de l'Hospital. Sie beschreibt, wie man den Grenzwert berechnet, wenn man es mit dem Verhältnis zweier Funktionen zu tun hat. Man kann damit Ausdrücke der Form 0⁄0 oder ∞⁄∞ mathematisch sauber untersuchen. Das hat mich immer schon fasziniert. Um die Regel von de l’Hospital anwenden zu können, müssen die Funktionen aber differenzierbar sein. Bei nicht differenzierbaren Folgen kann man den Satz von Stolz-Cesáro anwenden und die Lücke schließen.
Meine diesbezügliche Wissenslücke ist jetzt glücklicherweise auch geschlossen (obwohl ich ja vermute, dass ich den Satz während meines Studiums irgendwann mal gelernt und danach – wie so vieles andere – einfach wieder vergessen habe). Um spannende Geschichten aus der Mathematik zu entdecken, muss man also nicht unbedingt im Internet oder Büchern nachsehen. Manchmal reicht dafür auch ein Taschenrechner.
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