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Sonnensegel: Was es mit dem »Alien-Raumschiff« 'Oumuamua auf sich hat

Astrophysiker Andreas Müller fasst die Erkenntnisse über den interstellaren Besucher 'Oumuamua zusammen und kommentiert die Berichterstattung der letzten Tage.
Der interstellare Besucher ist ein Komet (künstlerische Darstellung)

Am 6. November 2018 erschütterte eine Vorabveröffentlichung von renommierten Harvard-Astronomen die Welt: Auf dem Preprint-Server arXiv, den Astronomen und Journalisten weltweit täglich im Blick haben, erschien ein Paper von Shmuel Bialy und Abraham Loeb mit dem Titel »Could solar radiation pressure explain 'Oumuamua's peculiar acceleration?«. Hinter der harmlosen Formulierung verbirgt sich nichts weniger als die Vermutung, dass 'Oumuamua kein Asteroid oder Komet, sondern vielmehr ein Sonnensegel sei. Da die Menschen noch keines ins All geschossen haben, müsste es von einer außerirdischen Intelligenz stammen. Das war ein Paukenschlag, der eine beträchtliche Resonanz in den Medien erfuhr.

Die Vorgeschichte

Am 19. Oktober 2017 sichteten Astronomen mit dem Teleskop Pan-STARRS-1 auf Hawaii einen außergewöhnlichen Himmelskörper, der durch das Sonnensystem raste. Das Objekt unbekannter Herkunft wurde zunächst für einen Kometen oder Asteroiden gehalten. Doch die bis heute gesammelten Beobachtungsdaten geben Rätsel auf.
Der Himmelskörper erhielt den Namen 1I/2017 U1 »'Oumuamua«, der hawaiianischen Bezeichnung für Botschafter. 'Oumuamua ist der erste Körper, der aus einem anderen Sonnensystem zu uns flog. Astronomen nahmen zunächst an, dass der interstellare, eisige Kleinkörper ein natürliches Nebenprodukt der Sternentstehung ist und in einem Nachbarsystem herausgeschleudert wurde. 'Oumuamua näherte sich dann der Sonne bis auf etwa ein Viertel des Abstands Erde-Sonne unserem Zentralgestirn an und wurde entdeckt, als er das Sonnensystem mit hoher Geschwindigkeit verließ. Zum Zeitpunkt der Erstsichtung war das Objekt 33 Millionen Kilometer von der Erde entfernt.

'Oumuamuas Bahn | Das interstellare Objekt 'Oumuamua rast auf einer merkwürdigen Bahn durch das Sonnensystem.

'Oumuamuas mysteriöse Eigenschaften

Was war das? Die Beobachter konnten keinen typischen Kometenschweif ausmachen. Vielmehr muss 'Oumuamua ein extrem dunkler Körper sein, weil er kaum Sonnenlicht reflektiert. Unter der Annahme eines Rückstrahlvermögens (Albedo) von nur vier Prozent, folgt eine Größe von einigen hundert Metern, wie das Entdeckerteam um Robert Weryk und Karen Meech schon im November 2017 angab. 'Oumuamuas Masse wird auf eine bis zehn Millionen Tonnen geschätzt. Die Dichte ähnelt derjenigen von Kometen.

Die Reflexionen von der Oberfläche legen nahe, dass der interstellare Gast entweder eine oberste Schicht aus rötlichem, organischem Material oder aus Eisen besitzt. Für die Form gibt es einen gewissen Spielraum: Der »Botschafter« könnte Zigarrenform mit einer Länge von bis zu 800 Metern haben oder mehr einem plattgedrückten Ei ähneln und etwas kürzer sein. Das ist jedenfalls sehr klein. Selbst der berühmt gewordene Kometenkern 67P/Tschurjumow-Gerasimenko (»Tschuri«) hat Abmessungen von 4 Kilometer x 3,5 Kilometer x 3,5 Kilometer.

'Oumuamuas Bahnform ist ebenfalls sehr ungewöhnlich, denn er traf die Bahnebene der Planeten (Ekliptik) fast senkrecht mit einer Bahnneigung von fast 123 Grad. Dann durchquerte das Objekt das innere Sonnensystem zwischen der Sonne und dem innersten Planeten Merkur. Im sonnennächsten Punkt rauschte 'Oumuamua mit strammen 88 Kilometern pro Sekunde (zirka 320 000 Kilometer pro Stunde) vorbei. Jetzt verlässt er das Sonnensystem auf einer ungebundenen Bahn.

Eine Woche nach der Entdeckung wurde 'Oumuamua als Asteroid klassifiziert. Doch aus der beobachteten Lichtkurve, also der zeitlichen Veränderung von 'Oumuamuas Helligkeit, folgt, dass der Körper taumelt. Er dreht sich auf einer Zeitskala von sechs bis neun Stunden um sich selbst. Vor allem bemerkten die Astronomen um Marco Micheli von der Europäischen Weltraumorganisation ESA schon im Juni 2018, dass die Schwerkraft allein nicht ausreicht, um 'Oumuamuas seltsame Bahn zu erklären. Woher kam die merkwürdige Zusatzbeschleunigung?

Micheli und seine Koautoren schlossen viele Ursachen aus, darunter den Strahlungsdruck der Sonne, Sonnenwind oder Reibung. Vielmehr interpretierten sie es so, dass 'Oumuamua einem Kometen ähnelt, der mit Annäherung an die Sonne Oberflächenmaterial verdampft. Wie beim Rückstoß einer Rakete, ändert der Himmelskörper durch ausströmende Gase seinen Kurs.

Gaia und Milchstraße | Diese künstlerische Darstellung zeigt Gaia vor der Kulisse des Milchstraßenbands. Der Astrometriesatellit beginnt nun, eine Milliarde Sterne zu vermessen.

Ursprung außerhalb des Sonnensystems

‘Oumuamua ging in die Geschichte als erstes beobachtetes interstellares Objekt ein. Seine hohe Geschwindigkeit in Kombination mit der charakteristischen, sehr exzentrischen Bahn ließ da keinen anderen Schluss zu. Es war der erste Körper, der von außen in unser Sonnensystem eindrang. Doch woher kam der mysteriöse Besucher genau?

Ganz grob kam der interstellare Reisende aus dem Sternbild Leier (Lyra). Ein Team unter der Leitung von Coryn Bailer-Jones vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Astronomie hat kürzlich 'Oumuamuas Bahn zurückverfolgt. Mit Hilfe des ESA-Astrometriesatelliten Gaia schauten sie sich all diejenigen Sterne an, denen 'Oumuamua in den letzten Millionen Jahren bis auf 6,5 Lichtjahre nahe kam. Zwei Auswahlkriterien sind wichtig: 'Oumuamuas zurückverfolgte Bahn muss zum einen auf den Stern zeigen, zum anderen sollte der Geschwindigkeitsunterschied zwischen 'Oumuamua und dem Stern nicht zu groß sein. Zum Vergleich: Um ein Objekt aus dem Sonnensystem zu schleudern, muss es immerhin eine Geschwindigkeit von fast 17 Kilometern pro Sekunde (61 000 km/h) überwinden. Eine Relativgeschwindigkeit von dieser Größenordnung wäre akzeptabel – vermutlich eher etwas weniger, weil rote Zwergsterne noch leichter sind als die Sonne.

Bailer-Jones und sein Team identifizierten vier Zwergsterne, die als Heimat von 'Oumuamua in Frage kommen. Derjenige Stern, der dem Kleinkörper mit rund zwei Lichtjahren am nächsten kam, heißt HIP 3757. Die Reisezeit von diesem roten Zwergstern zur Erde hätte für den interstellaren Besucher eine Million Jahre betragen. Die Relativgeschwindigkeit zwischen 'Oumuamua und diesem möglichen Heimatstern ist mit 25 Kilometern pro Sekunde allerdings recht hoch, so dass es unwahrscheinlich erscheint, dass er wirklich von dort kam. Aus dem gleichen Grund wird übrigens das uns nächste Sonnensystem, Alpha Centauri, als Ursprungsort ausgeschlossen, weil die Relativgeschwindigkeit satte 37 Kilometer pro Sekunde beträgt.

Ein anderer Kandidat ist der sonnenähnliche Zwergstern HD 292249. 'Oumuamua wäre hier vor 3,8 Millionen Jahren vorbeigeflogen. Mit rund fünf Lichtjahren ist das zwar nicht so nah, aber die Relativgeschwindigkeit von nur elf Kilometern pro Sekunde passt besser. Bailer-Jones und sein Team nahmen in ihrer Analyse zunächst vereinfachend an, dass sich 'Oumuamua und die nächsten Sterne in den letzten Millionen Jahren immer geradeaus und mit gleich bleibender Geschwindigkeit bewegt haben. Das offenbarte 1500 Sterne, zu denen die Bahnen des »Botschafters« dann exakt zurück berechnet wurden.

Die neue Interpretation: Ein Alien-Lichtsegel?

Letzte Woche sorgten Harvard-Astronomen für Furore. Auf dem Preprint-Server arXiv veröffentlichten Shmuel Bialy und Abraham "Avi" Loeb eine gewagte These, wie Spektrum.de berichtete. Die ungewöhnlichen Eigenschaften wie Form, Größe und unerwartete Geschwindigkeit, aber vor allem das erstaunlich niedrige Verhältnis von Masse zu Fläche des Objekts, lassen sich erklären, wenn man 'Oumuamua als Sonnensegel betrachtet. Es wäre dann nur 0,3 bis 0,9 Millimeter dick. Asteroiden und Kometen scheiden damit aus, weil ihr Masse-zu-Fläche-Verhältnis viel größer ist. Bialy und Loeb gehen von der Grundannahme aus, die Zusatzbeschleunigung allein durch den Strahlungsdruck der Sonne zu erklären – eine Vermutung, die Micheli und sein Team längst verworfen hatten. Also doch kein Komet, wie Micheli und seine Kollegen favorisieren? Bialy und Loeb greifen ein Argument des Cambridge-Forschers Roman Rafikov auf, nach dem ein kometenartiger Gasausstoß 'Oumuamua in charakteristische, schnelle Drehungen versetzen würde. Das wurde allerdings nicht beobachtet.

Die Harvard-Kollegen berechneten nun, welche Bahn ein sehr dünnes Sonnensegel durch den interstellaren Raum und das Sonnensystem nehmen würde. Sie berücksichtigten auch das Bombardement interstellarer Partikel oder Gezeitenkräfte, die an dem Segel zerren. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass all das dem Segel nichts anhaben würde und es die Lichtjahre lange Reise tatsächlich überdauern könnte.

Natürlich könnte ein so flaches Objekt durch einen noch unbekannten Mechanismus im interstellaren Raum auf natürliche Weise entstehen, wie Bialy und Loeb zugeben. Vor allem mutmaßen die Harvard-Forscher jedoch, dass es »künstlichen Ursprungs« sein könnte. Damit legen sie natürlich nahe, dass eine außerirdische Intelligenz das Lichtsegel ins All geschossen haben könnte. Es könnte als längst vergessener Weltraumschrott durchs All trudeln. Doch Bialy und Loeb gehen sogar so weit, in Erwägung zu ziehen, dass Aliens 'Oumuamua absichtlich ins Sonnensystem schossen. Ein außerirdischer Spion? Bei der Passage des interstellaren Besuchers haben Radioastronomen vom Green-Bank-Observatorium im Rahmen der Breakthrough-Projekt »Listen« keinerlei Radiowellen messen können, die ‘Oumuamua nach Hause gesendet haben könnte.

Sonnensegel der NASA | Dünn und flach. Ein interstellares Sonnensegel sieht in etwa so aus wie dieses Demonstrationsexperiment der NASA (Solar Sail Demonstrator). Die Seitenlänge beträgt 37 Meter.

Was wäre, wenn...

Nehmen wir für einen Moment den unwahrscheinlichen Fall an: Ja, 'Oumuamua kam von Aliens. Macht das alles Sinn? Würde eine außerirdische Intelligenz ein interstellares Raumschiff auf den Weg ins Sonnensystem schicken, das genauso bei uns in Erscheinung tritt? Wenn die Außerirdischen über ein ähnliches Technologieniveau verfügen wie wir, dann macht 'Oumuamuas Bahn Sinn. Der Körper drang senkrecht »von oben« in unser Sonnensystem ein. Das ist insofern von Vorteil, weil damit Kollisionen mit Asteroiden und Planeten innerhalb der Ebene des Sonnensystems vermieden werden können.

'Oumuamua kreuzte die Planetenebene zwischen Sonne und Merkur und wurde dann herumgeschleudert. Ein potenzielles Alien-Raumschiff täte sich so schwer, um die Erde und äußeren Planeten zu erforschen. Aber der Schwenk in unmittelbarer Sonnennähe wäre ein gutes Swing-by-Manöver, um Schwung für den Flug zum nächsten Sonnensystem zu holen.

Aber würde 'Oumuamua als Alien-Raumsonde nicht abbremsen, um in der Planetenebene Daten zu sammeln, möglicherweise auch, um einen Kommunikationsversuch zu starten? Derlei wurde nicht beobachtet. Der interstellare Sonnensystemkreuzer wurde 2017 ausgemacht, als er schon im Begriff war, das Sonnensystem zu verlassen.

Leider wissen wir viel zu wenig über 'Oumuamua, als dass wir genau auf Größe und Form schließen und über die Gestalt des Raumschiffs sinnieren könnten. Viel Spielraum für Spekulationen. Sollten die Astronomen 'Oumuamuas Heimat genau lokalisieren, könnten sie dorthin gezielt per METI (Messaging to Extraterrestrial Intelligence) Radiosignale funken. Vielleicht erhalten wir dann in ein paar Jahren Antwort von einer außerirdischen Intelligenz.

Rätsel zwischen PR-Gag und Medienkritik

'Oumuamua ist fraglos ein faszinierendes, mysteriöses Objekt. Rätselhafte Zusatzbeschleunigungen gab es auch schon bei der so genannten Pioneer-Anomalie. Mittlerweile hatten sich diese als ganz harmloser Effekt entpuppt, denn Wärmestrahlung gab den Raumsonden einen Extraschubs. Muss man bei 'Oumuamua gleich die Alien-Karte spielen? Bialy und Loeb gehen in ihrem Paper einige Szenarien durch. Aber Loeb ist auch Medienprofi und mit der Sonnensegelbehauptung hat er große Aufmerksamkeit für das andere Breakthrough-Projekt »Starshot« bekommen, an dem er beteiligt ist. In der Danksagung der Publikation gibt er offen zu, dass die Publikation in Teilen von der Breakthrough-Preis-Stiftung gefördert wurde. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Ebenso gut hätte ich behaupten können, dass 'Oumuamua in Wahrheit die gesunkene Titanic mit meiner Oma an Bord ist. Diese Hypothese wird auch niemand so schnell entkräften können, immerhin soll das Objekt länglich sein und möglicherweise aus Eisen bestehen. Als Journalist und als Publizist darf man sich zu Recht fragen, ob wir uns hier vor den Karren spannen lassen? Sollen wir über alles berichten, auch wenn es noch so hanebüchen ist? Ist es vertretbar, wenn ein Journalist sich das medienträchtigste Szenario einer wissenschaftlichen Arbeit herauspickt, darüber berichtet und die anderen unter den Tisch fallen lässt? Ich denke, dass genau das geschehen ist, wenn wir uns den Medienrummel der letzten Tage kritisch anschauen.

Am 12. November erscheint Bialys und Loebs Publikation als Letter im renommierten »Astrophysical Journal«, nachdem es den wissenschaftlichen Begutachtungsprozess (Peer Review) durchlaufen hat. Die spekulative Alien-Hypothese hat darin überlebt. 'Oumuamua ist rasend schnell, wird sich jedoch nun auf der Flucht vor dem Sonnensystem verlangsamen. Loeb schloss in einem Interview nicht aus, den »Botschafter« in den nächsten rund zehn Jahren noch mittels Swing-by-Manöver zu verfolgen, um ihn zu studieren. Preisschild für eine solche Mission: etwa eine Milliarde Euro. Oder wird sich bald eine neue Chance bieten, wenn wir erneut Besuch von einem interstellaren Vagabunden bekommen? Die Astronomen stehen jedenfalls mit ihren Teleskopen bereit. Vielleicht werden weitere Analysen Loebs steiler These schon bald den Wind aus den Segeln nehmen. Bis es soweit ist rufe ich: »Gute Reise, Oma«.

Update 13.11.18: Die Methode von Bailer-Jones et al. wurde korrigiert.

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