Schlichting!: Was Sandlawinen in Form bringt

Bei einem morgendlichen Spaziergang in einem Sanddünengebiet erregte ein kleines Schauspiel an der Leeseite einer Düne meine Aufmerksamkeit. Ich erlebte, wie eine formschöne Sandlawine abging und nach kurzer Strecke zum Stillstand kam.
Solche Lawinen erscheinen zuweilen wie aus heiterem Himmel. Jedenfalls können die Auslöser dafür beliebig winzig sein. Hier zeigte sich der Verursacher in Gestalt eines schwarzen Käfers, der sich deutlich vom hellen Hintergrund des Sands abzeichnete. Bevor ich meine Kamera gezückt hatte, war er über alle Berge.
Aber seine Spur blieb erhalten, so dass ich das Ereignis leicht rekonstruieren konnte: Der Käfer krabbelte die Sandböschung hinab, bis plötzlich der Boden unter seinen Füßen ins Wanken geriet. Ein Teil des Sands verflüssigte sich regelrecht und streifte tropfenförmig den Hang hinab. Schließlich kam die Lawine bei einem geringeren Böschungswinkel zum Erliegen.
Die Fußspur des Käfers endete am oberen Ende der Lawine. An der Stelle hatte er sie losgetreten und wurde offenbar ein Stück weit mit dem hinabfließenden Sandstrom mitgerissen. Die Fußspuren bewiesen eindrücklich, dass er anschließend seinen Weg über die inzwischen erstarrte Rutschung fortsetzte.
Um eine Lawine auszulösen, reicht sogar noch wesentlich weniger als ein Käfer, sofern sich der Abhang in einem kritischen Zustand befindet. Sobald ein für den jeweiligen Sand typischer Böschungswinkel erreicht ist, können bereits einzelne hinzukommende Körner zu kleineren und größeren Lawinen führen. Das regelt den Winkel des Abhangs immer wieder in den kritischen Bereich zurück.
Die Situation lässt sich für den einfachsten Fall durch ein kleines Experiment nachstellen. Man lässt sauberen, am besten feinkörnigen, gewaschenen und anschließend getrockneten Sand mittig auf eine kreisrunde Unterlage fallen, so dass überschüssiger Sand die Unterlage verlassen kann. Es baut sich schließlich ein kegelförmiger Schütthaufen auf. Führt man weiteren Sand zu, geht er in einen stationären Zustand über: Nun treffen im zeitlichen Mittel genauso viele Sandkörner auf, wie den Haufen wieder verlassen. Das ist typischerweise bei einem kritischen Winkel von etwa 35 Grad der Fall.
Sanft rieselnde Selbstregelung
Welche Mechanismen liegen diesem selbstorganisierten Verhalten zu Grunde? Schaut man sich die Sandkörner etwas genauer an, die von oben auf die Spitze des Haufens fallen, so stellt man fest: Sobald der kritische Böschungswinkel erreicht ist, rutschen oder rollen weitere hinzukommende Sandkörner nicht nur einfach an der Böschung hinab. Vielmehr reißen sie im Allgemeinen noch weitere Körner mit. Dabei sind die kleineren Rutschungen häufiger als die größeren. Auf diese Weise regelt sich die Neigung des Haufens immer wieder auf einen Wert ein, der um den kritischen Böschungswinkel schwankt.
Auch bei Lawinen an den windabgewandten Seiten der Dünen organisiert sich der Böschungswinkel von selbst. Dabei treibt der Wind auf der windzugewandten Luvseite den Sand hinauf, bis dieser schließlich über den Kamm gelangt und an der Leeseite hinabrieselt. Je nach Winkel der Böschung bleiben die Körnchen dann liegen oder nehmen bei ihrem Abgang noch weitere Teilchen mit sich. Bei heftigem Wind ist die Böschung also ständig in Bewegung, und die Düne wandert – mit jeder Lawine ein Stück weiter zur windabgewandten Seite.
Solange der Böschungswinkel kritisch bleibt, können Lawinen noch abgehen, nachdem sich der Wind längst gelegt hat. Ein Beispiel für solche andersartigen Störungen ist der eingangs beschriebene Lauf eines Käfers. Oder man wird selbst vom wandernden Beobachter zum Auslöser.
»Reine Kunst, die keinen Künstler braucht, unaufhaltsam beweglich bewegt«Hans Magnus Enzensberger, deutscher Dichter
Lawinen sind Unikate mit individuellem Aussehen. Doch bei aller Verschiedenheit zeigen diese lang gestreckten Sandskulpturen auffällige Gemeinsamkeiten und Regelmäßigkeiten. Sie beenden ihren Weg oft noch entlang des Dünenabhangs und erreichen selten dessen Basis. Denn der Böschungswinkel wird nach unten hin kleiner und somit unterkritisch. Anders als im oben beschriebenen Experiment verschwindet der herabrutschende Sand nicht einfach, sondern häuft sich am Fuß der Düne an.
Ferner fällt auf, wie erstaunlich symmetrisch die erstarrten Lawinen sind. Dabei leuchtet es noch unmittelbar ein, dass im oberen Bereich eine konkave Vertiefung entsteht und darunter eine manchmal nahezu spiegelbildlich passende konvexe Wölbung. Faszinierender jedoch sind die fast identischen Strukturelemente auf beiden Seiten der Lawine. Wie kann es angehen, dass die Einwirkungen, die für die individuelle Gestalt verantwortlich sind, links nahezu die gleichen sind wie rechts? Allerdings ist die Erscheinung nicht spiegelbildlich exakt – das ist bei natürlichen Vorgängen auch kaum zu erwarten.
In den von mir beobachteten Beispielen ist die strukturelle Ähnlichkeit zumindest immer dann groß, wenn die jeweilige Lawine auf einer weitgehend homogenen Böschung mit einheitlichem Winkel ausgelöst wird. Dann finden hinabrollende Körnchen rechts wie links ähnliche Bedingungen vor. Wenn zudem eine zunehmend flachere Neigung die Lawine langsam ausbremst, kann es zu immer feiner verästelten, geradezu fraktalen Mustern kommen. Ähnlichkeiten zu auf dem Kopf stehenden Bäumen liegen nahe: Analog zu einem sprießenden Zweig, der zum Licht hin wächst, rollen Sandkörner in einer Lawine in Richtung des lokal steilsten Böschungswinkels.
Tatsächlich zeigen sich in digitalen Sandhaufenmodellen immer wieder selbstähnliche Strukturen. So haben Forscher im Jahr 2019 bei Simulationen nachvollzogen, wie solche Muster fortlaufend beim Übergang von instabilen zu stabilen Konfigurationen entstehen. Während Moritz Lang und Mikhail Shkolnikov vom niederösterreichischen Institute of Science and Technology Austria den virtuellen Sand rieseln ließen, untersuchten sie den Übergang verschiedener Anordnungen ineinander. Das Verhalten erinnerte die Autoren an das Wandern und Verschmelzen realer Dünen. Solche Untersuchungen könnten Rückschlüsse auf die mathematischen Hintergründe von sich selbst organisierenden, komplexen Systemen zulassen. Das unterstreicht den Eindruck, den man beim aufmerksamen Spaziergang zwischen Dünen erhält: Selbst die kleinsten Sandlawinen gewähren Einblicke in grundlegende Geometrien der Natur.
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