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Weitemeiers Widerspruch: Was macht die Milch?

Milch - der schleichende Tod? Während die Kolumnistin nichts ahnend Milchschaum schlürft, tobt ein Glaubenskrieg um das Getränk. Doch was sagt die Wissenschaft?
Milch wird aus einer altmodischen Glasflasche in ein Glas gegossen, das auf einem Holztisch steht.

Schon kleine Mengen Milch können toxisch sein. Diese Schlussfolgerung lässt sich nicht vermeiden, nimmt man die vielen Berichte, Blogeinträge, Betroffenen-Statements und Instagram-Posts von Milchgegnern ernst. Fließt die weiße Flüssigkeit die Kehle hinunter, hinterlässt sie Spuren der Verwüstung, langsam, schleichend. Zellen entzünden sich, mutieren, irgendwann wuchern Tumoren.

Das Resultat: Milchtrinker sterben früher. Und das nicht einmal mit starken Knochen, nein. Denn anders als propagiert, macht Milch unsere Knochen nicht gesund, sondern brüchig. Erste Anzeichen eines milchversifften Organismus: schlechte Haut. Und so geht es weiter.

Disclaimer: Ich habe ein Faible für Milchschaum. Schön vollfett, dickflüssig, schwer, cremig. Wenn meine Kollegin aus unserem Lieblingscafé einen Espresso macchiato mitbringt und ihn »gerne mit extra viel Schaum« bestellt, ist sofort klar, für wen er ist. Manchmal, wenn die Luft rein ist, kann ich nicht widerstehen und streiche mit dem Finger heimlich den letzten Rest Schaum aus dem Becher. (Insofern ist diese Kolumne ein Stück weit Betroffenheitsjournalismus.)

Und während ich mich noch naiv und nichts ahnend in meiner Milchschaumblase verlustierte, tobte da draußen längst ein Gesinnungskrieg – um Milch. Dessen Emotionalität mir lange nicht so ganz bewusst war. Wahr ist: Die Studienlage zu Milch ist unübersichtlich. An zu wenig Forschung krankt sie nicht. Es gibt zahllose Veröffentlichungen, große Studien mit tausenden Teilnehmern, Metaanalysen, Stellungnahmen von Bundesforschungsinstituten. Klare Erkenntnisse? Überschaubar.

Was man weiß

  • Milch ist sehr dicht an Nährstoffen. Vitamine, Mineralstoffe, rund 400 verschiedene Fettsäuren – und viele Aminosäuren, die der Körper allein nicht herstellen kann. Heißt aber zugleich: Milch hat einen hohen Nährwert. Trinkt man sie wie Wasser, macht sie irgendwann dick.
  • Ja, die Knochen. Milch gilt als der Kalziumlieferant schlechthin. Ist sie auch. Bei Kindern ist Milch deshalb ein Garant für starke, gesunde Knochen – bei Erwachsenen ist das mittlerweile umstritten. So gibt es Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Frauen, die viel Milch trinken, sogar ein höheres Risiko für Knochenbrüche haben – und solche Studien, die Entwarnung geben.
    Immerhin scheint nun klar zu sein: Kalzium allein tut's nicht. Wer literweise Milch trinkt, aber kaum Vitamin D im Körper hat, wird das Kalzium aus der Milch nicht richtig verwerten können.
  • Die Sache mit dem Krebs ist noch komplexer. Die zwei Extreme: »Milch fördert Krebs« vs. »Milch schützt vor Krebs«. Beide haben Recht. Wer viel Milch trinkt, scheint etwa sein Risiko für Darmkrebs zu senken. Gleichzeitig steigt das Risiko für Prostatakrebs. Aber nur für Menschen, die Milch wirklich, wirklich gerne trinken – mehr als einen Liter am Tag. Das sind mehr als fünf üppige Latte macchiato.
  • Wir gehen weiter durch: Diabetesrisiko? Etwas geringer, jedoch nur bei fermentierten Milchprodukten wie Käse und Jogurt. Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen? Offenbar doch nicht erhöht, auch nicht bei Vollfett-Milch mit ihren vielen gesättigten Fettsäuren.

Ich könne jetzt weitermachen, wir könnten in die Details gehen, über die möglichen Ursachen sprechen: Liegt es an den Wachstumsfaktoren, am Kalzium, an microRNA oder einem ominösen Erreger, dem Plasmidom? Das Hauptproblem ist eigentlich ein anderes. Es ist ein doppeltes:

Erstens: Ernährungsstudien sind immer mit Vorsicht zu genießen

Das gilt nicht nur für Milch. Studien zu Nahrungsmitteln sind medial höchst begehrt, aber per se anfällig für Fehler – und suggerieren oft Kausalität, wo keine ist. Ein Problem: Wo bei Medikamentenstudien streng reguliert wird, wer was bekommt, müssen Teilnehmer gerade bei großen Studien meist bloß angeben, was sie gegessen oder getrunken haben. Da kann man schnell mal was vergessen oder verschweigt es sogar bewusst. Außerdem sind die Untersuchungszeiträume oft viel zu kurz – und die möglichen Einflussfaktoren zahlreich. Der Evidenzgrad einzelner Studien: so lala.

In einer Metaanalyse haben Forscher mal für ganz normale Lebensmittel nach Studien zu deren Gefährdungspotenzial gesucht. Das Resultat: Für 80 Prozent der Lebensmittel gab es Einzeluntersuchungen, die ihnen attestierten, Krebs zu fördern – oder vor Krebs zu schützen. Manchen sogar beides. Sie haben eine Vermutung, was Milch in Ihrem Körper macht? Suchen Sie sich etwas aus. Es gibt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Studie, die das belegt.

Zweitens: Wir überschätzen den Einfluss von Nahrungsmitteln maßlos

Wenn man mal überlegt, auf wie viele verschiedene Arten Milch laut Milchgegnern den Körper zerstören kann, darf man hochachtungsvoll sagen: Chapeau! Genauso ist es bei Weißmehl, bei Fetten, bei Kaffee. Nur, es gibt viel mächtigere Faktoren, die beeinflussen, wie gesund wir sind – wie viel wir uns bewegen, wie viel Alkohol wir trinken, ob wir dick oder dünn sind und ja, wie alt wir sind. So platt es klingt, aber für jedes Lebensmittel gilt: Die Dosis macht's.

Warum wir uns so auf die Lebensmittel versteifen? Vielleicht, weil es vergleichsweise einfach ist, weniger Milch zu trinken – statt sich bewusst zu machen, dass eigentlich das Nichtbewegen, der Alltagsstress und der abendliche Wein zum Runterkommen das viel größere Problem sind. Und die effektiveren Hebel, um die eigene Gesundheit zu beeinflussen.

Beim gegenwärtigen Stand des Wissens kann man sagen: Es lohnt sich nicht, vor jedem Glas Milch in die Risikoabwägung zu gehen. Milch ist kein Gift. Milch ist auch kein Wundermittel. Milch ist: okay. Wer sie mag, soll sie trinken – nur vielleicht nicht literweise. Wer nicht, der nicht.

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