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Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn wir uns wie Ameisen verhalten würden?

Wir mögen die intelligentesten Lebewesen sein, aber nützt uns das immer? Manchmal lohnt es sich, seine Vorbilder im heimischen Garten zu suchen, meint unser Kolumnist Vince Ebert.
Der Kabarettist Vince Ebert

Das menschliche Gehirn wiegt im Schnitt 1400 Gramm. Das entspricht etwas mehr als zwei Prozent unseres Körpergewichts – damit sind wir der neuronale Weltmarktführer. Überboten werden wir nur noch von Ameisen: Ihr Gehirn macht immerhin sechs Prozent ihres Körpergewichts aus. Ein handelsüblicher Ameisenhaufen mit 400 000 Individuen hat somit etwa dieselbe Anzahl von Gehirnzellen wie ein Mensch. Wahrscheinlich ähneln sie uns deshalb so sehr: Sie züchten Pilze, halten sich Blattläuse als Viehbestand, errichten komplizierte architektonische Bauten und kommunizieren permanent miteinander. Im Grunde tun sie fast alles, was wir auch tun – außer Tatort gucken. Und sie können noch mehr: Eine Waldameise kann 24 Tage ohne Kopf auskommen. Was sie für eine Karriere in der Politik befähigen würde.

Trotz dieser beeindruckenden Fakten ist eine einzelne Ameise nicht besonders helle. In der Gruppe jedoch verhalten sich die Tiere äußerst intelligent. Bei uns Menschen ist es oft umgekehrt. Besonders gut ist das im Straßenverkehr zu beobachten. Verkehrsforscher fanden anhand von Computermodellen heraus: Sobald auf einem Fahrstreifen mehr als 20 Fahrzeuge pro Kilometer unterwegs sind, steigt die Staugefahr rapide an. Dann können bereits kleinste Störungen im Verkehrsfluss einen "Stau aus dem Nichts" auslösen. Schuld daran sind unachtsame oder egoistische Verkehrsteilnehmer, umgangssprachlich auch "Vollidioten" genannt. (Dabei ist anzumerken, dass Vollidioten immer nur die anderen sind. Man selbst natürlich niemals!)

Die Kolonne ist mit gleichmäßiger Geschwindigkeit unterwegs. Der Vollidiot aber möchte aus unerfindlichen Gründen die TÜV-Plakette seines Vordermanns genauer studieren und fährt zu dicht auf. Dann tippt er hektisch auf die Bremse. Sein Hintermann benötigt etwa ein bis zwei Sekunden, um zu realisieren: "Was für ein Vollidiot ist das denn??? Ich bremse lieber auch mal." Bedingt durch die Verzögerung muss er aber schon etwas mehr in die Eisen gehen. Wie bei einem Dominoeffekt summieren sich nun die Reaktionszeiten der Fahrer in der Kolonne. Jedes weitere Fahrzeug muss immer stärker abgebremst werden. So kommt bei hoher Verkehrsdichte die Kolonne irgendwann vollständig zum Stehen.

Wovon der Vollidiot selbstverständlich nichts mitbekommt. Stau ist eben nur hinten blöd. Vorne geht's. Sein Abbremsmanöver kostet ihn maximal einen kurzen Adrenalinstoß; hinter ihm jedoch bricht das Chaos aus, denn zum erneuten Anfahren benötigt man wiederum eine gewisse Reaktionszeit. Und wenn sich in dem stehenden Pulk ein weiterer Vollidiot befindet, der kurz mal zum Pinkeln in die Büsche verschwindet oder anfängt, hinter seinem Steuer Krieg und Frieden zu lesen, verzögert sich die Anfahrt zusätzlich. Dadurch wächst der Stau hinten schneller, als er sich vorne auflöst. Und das alles nur wegen zwei Holzköpfen!

Das alles gibt es bei Ameisen nicht. Das Geheimnis ihrer staulosen Existenz liegt darin, dass sie alle eine optimale durchschnittliche Geschwindigkeit halten. Einige Arten erreichen dadurch einen Durchsatz auf ihren Autobahnen von mehr als 100 Ameisen pro Minute. In einer Studie aus Frankreich kam sogar heraus, dass Ameisenautobahnen mit steigender Verkehrsdichte effizienter werden. Ameisen überholen nicht, wenn es unpassend ist. Sie bremsen nicht abrupt ab und bummeln nach einer Verzögerung nicht unnötig herum. Sie wechseln nicht hektisch die Spur, wenn sie nicht vorankommen, geben keine Lichthupe und haben auch keine Wohnwagen dabei. Bei Ameisen gibt es weder Extrawürste noch Egoisten. Engstellen werden genauso ruhig und gleichmäßig passiert wie Unfall- oder Gefahrenstellen. Gafferstaus bei Ameisen? Fehlanzeige! Duftstoffe informieren Artgenossen über Gefahren oder andere Störquellen, die auf deren Weg liegen, und funktionieren so als Verkehrsfunk.

Im Straßenverkehr können wir also den Ameisen einiges abschauen. In anderen Bereichen tragen sie durchaus Konflikte aus. Schmalbrustameisen etwa kämpfen darum, wer den männlichen Nachwuchs produzieren darf. Die Königin oder einige Arbeiterinnen. Gewinnt das Fußvolk, gibt's im Anschluss Streit mit den anderen Arbeiterinnen, weil sich die Fortpflanzerinnen nicht an der Nahrungssuche beteiligen. Was andererseits wieder das Risiko eines Staus extrem minimiert. Die längste Ameisenstraße der Welt bildet übrigens die Argentinische Ameise. Eine Kette von Staaten, zwischen denen reger Austausch herrscht, zieht sich auf einer Länge von rund 6000 Kilometern von der italienischen Riviera bis zum Nordwesten Spaniens. Obwohl also ein einzelnes Tier noch nicht einmal ein Erbsengehirn besitzt, zeigen sie in der Gruppe tatsächlich Verhaltensmuster, die aus menschlicher Sicht "intelligent" genannt werden können. Damit das klappt, verständigen sich die Ameisen über eine Duftsprache und durch friedvolle Berührungen. Was man von den meisten Menschen im Straßenverkehr nicht gerade behaupten kann. "Ey, du Stinkstiefel! Mach hinne, sonst fängste eine …" Tja, Ameise müsste man sein.

Wenn Sie mehr über den Wissenschaftskabarettisten und Bestsellerautor wissen möchten, besuchen Sie ihn auf seiner Homepage www.vince-ebert.de oder auf Facebook unter facebook.com/Vince.Ebert

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