Schlichting!: Tiefer Blick ins Glas
In einem Glas mit Sprudelwasser macht sich ein Trinkhalm manchmal selbstständig, steigt auf und kippt möglicherweise sogar heraus (siehe »Fällt er oder fällt er nicht?«, »Spektrum« Juli 2009, S. 38). In stillem Wasser hingegen steht er ruhig, und die Situation erscheint vergleichsweise reizlos – doch das ändert sich, sobald man genauer hinsieht.
Berührt der Halm (oder ersatzweise etwa ein Bleistift) beispielsweise mit seinem unteren Ende vorne das Glas und lehnt oben an dessen hinterem Rand, so scheint er innerhalb des Wassers nach hinten und oben hin etwas dicker zu werden. Sollte man nicht eigentlich das Gegenteil erwarten? Schließlich sind wir gewohnt, dass sich Dinge, die weiter weg sind, perspektivisch verkleinern. Dreht man das Glas mit dem Halm um 180 Grad, ändert sich die Lage, und das untere Ende verbreitert sich. In beiden Fällen wirkt der im Wasser befindliche Abschnitt des Halms umso dicker, je mehr Flüssigkeit sich zwischen ihm und dem Beobachter befindet. Der Effekt überwiegt offenbar deutlich die perspektivische Verjüngung.
Die Vergrößerungswirkung erinnert an das Verhalten einer Sammellinse. Tatsächlich formt das Glas den Flüssigkeitskörper zu einer zylindrischen Linse: Parallel zur Bodenfläche ist es rund, in vertikaler Richtung hingegen nicht gekrümmt. Das Wasser macht es möglich, den Gegenstand sogar innerhalb dieses optischen Elements zu platzieren.
Der gerade Stecken erscheint im Wasser krumm
Michel de Montaigne, 1533–1592
Der Brennpunkt der Zylinderlinse liegt außerhalb des Glases. Jeder Abschnitt des Halms befindet sich also stets innerhalb der einfachen Brennweite. Darum wirkt das Gefäß in horizontaler Richtung wie eine Lupe, und der Halm erscheint umso breiter, je näher er dem Brennpunkt ist. Der Einfluss des Glasmaterials selbst kann dabei vernachlässigt werden. Zwar ist der Brechungsindex und damit die Vergrößerungswirkung von gekrümmtem Glas größer als die von Wasser, aber für einen deutlichen Effekt ist es einfach zu dünn.
Die scheinbare Verdickung weiter entfernter Bereiche findet sich auch anderswo häufig und tritt dort sogar noch deutlicher hervor – wenn man sie erst einmal bemerkt hat: bei einer Beschriftung außen auf einem Trinkglas oder einer transparenten Flasche. Sie erscheint durch die Flüssigkeit betrachtet viel größer als bei direktem Blick auf der Vorderseite. Hier trägt der gesamte Wasserkörper zu dem Effekt bei. Man erkennt an dem Schriftzug gut, dass eine Zylinderlinse nur in seitlicher Richtung vergrößert. Die Buchstabenbreite in Längsrichtung bleibt erhalten.
Infolge der Lichtbrechung erscheint ein Gegenstand zudem hinter einer konvexen Grenzfläche umso stärker zu den Seiten verschoben, je weiter die betrachteten Teile vom Zentrum entfernt sind. Das sieht man am besten, wenn man den Trinkhalm quer zur Blickrichtung ins Wasserglas stellt (siehe Foto rechts). Der eingetauchte Abschnitt wird dann links und rechts stärker vergrößert als in der Mitte. Blickt man genau parallel zum Wasserspiegel, erkennt man den verzerrenden Effekt durch einen Versatz direkt über und unter dem Wasser. Eine gedachte Linie, die den oberhalb liegenden Halm unter Wasser verlängert, kreuzt den eingetauchten Teil mitten im Glas.
In kohlendioxidhaltigen Getränken wirken Blasen an der Glaswand durch den Linseneffekt ebenfalls viel größer. Für den Vergleich kann man eine am Rand aufsteigende Blasenkette durch vorsichtiges Drehen von allen Seiten untersuchen. Dauerhafter sind solche Luftgebilde in manchen Glaskugeln fixiert, die als Designobjekte erhältlich sind. Je nach Blickrichtung ändern sich die scheinbaren Größen der enthaltenen Blasen. Hier entfällt dann aber ein entscheidender Vorzug der Flüssigkeitslinse: Sie erfrischt den Betrachter nach erfolgter Erkenntnis schluckweise mit ihrem Inhalt.
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