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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Das Dornröschen-Problem spaltet die Mathewelt

Seit mehr als 20 Jahren streiten sich Fachleute über den Ausgang eines Gedankenexperiments: Lautet die Antwort ½ oder ⅓? Beide Seiten haben überzeugende Argumente. Welchem Lager gehören Sie an?
Zwei Köpfe mit 1/2 und 1/3 in den Gehirnen
Gehören Sie zur Einhalb- oder Eindrittel-Fraktion?

Üblicherweise gibt es in der Mathematik klare Antworten – vor allem, wenn die Aufgaben nicht allzu kompliziert sind. Doch bei dem im Jahr 2000 populär gewordenen Dornröschen-Problem herrscht noch immer keine Einigkeit: Fachleute der Philosophie und Mathematik spalten sich in zwei Lager auf und führen unablässig – meist ziemlich überzeugende – Argumente für ihre jeweilige Seite an. Es wurden bereits mehr als 100 Fachveröffentlichungen zu dem Thema herausgebracht. Fast jede Person, die vom Dornröschen-Gedankenexperiment hört, hat eine klare Meinung. Für welches Lager entscheiden Sie sich?

Das Problem, das die Gemüter der Fachwelt erhitzt, lautet folgendermaßen: Dornröschen erklärt sich bereit, an einem Experiment teilzunehmen, bei dem sie sonntags in Schlaf versetzt wird. Ein Experimentator wirft dann eine Münze. Bei »Kopf« weckt er Dornröschen am Montag auf und verabreicht ihr dann wieder ein Schlafmittel und lässt sie bis Mittwoch schlafen. Falls »Zahl« herauskommt, weckt er Dornröschen ebenfalls am Montag, versetzt sie dann wieder in einen Schlaf und weckt sie am Dienstag wieder, um sie dann nochmals bis Mittwoch zu narkotisieren. Der einzige Unterschied ist also, dass sie bei »Zahl« zweimal und bei »Kopf« einmal geweckt wird. Wichtig dabei ist: Durch das Schlafmittel hat Dornröschen keine Erinnerung daran, ob sie zuvor schon einmal geweckt wurde. Sie kann also nicht unterscheiden, ob Montag oder (falls Zahl fiel) Dienstag ist. Beim Aufwecken verrät der Experimentator Dornröschen nichts: weder den Ausgang des Münzwurfs noch den Tag. Er stellt ihr nach jedem Aufwachen aber eine Frage: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze »Kopf« gezeigt hat?

Dornröschen-Problem | Je nach Ausgang des Münzwurfs wird Dornröschen nur ein- oder zweimal geweckt.

Versetzen Sie sich in die Lage von Dornröschen: Sie werden aus dem Schlaf gerissen, wissen nicht, welcher Tag heute ist, und genauso wenig, ob Sie zuvor schon einmal geweckt wurden. Sie kennen nur den theoretischen Ablauf des Experiments. Meine erste Intuition war daher, ½ zu antworten. Schließlich beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze auf »Kopf« oder »Zahl« landet – unabhängig vom durchgeführten Experiment –, immer 50 Prozent. Diese Auffassung vertrat auch der US-amerikanische Philosoph David Lewis (1941–2001), als er von dem Problem erfuhr. Schließlich könnte man die Münze auch werfen, bevor man Dornröschen in den Schlaf schickt. Durch den Ablauf des Experiments gewinnt sie keinerlei neue Informationen, weshalb Dornröschen logischerweise für eine Wahrscheinlichkeit ½ plädieren müsste.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Doch es gibt auch schlüssige Argumente, die für eine Wahrscheinlichkeit von ⅓ sprechen. Wenn man die Perspektive von Dornröschen einnimmt, dann können drei Fälle eintreten:

  1. Sie wacht Montag auf und es wurde »Kopf« geworfen (M, K).
  2. Sie wacht Montag auf und es wurde »Zahl« geworfen (M, Z).
  3. Sie wacht Dienstag auf und es wurde »Zahl« geworfen (D, Z).

Wie hoch sind die Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Ereignisse? Das kann man sowohl mathematisch als auch empirisch untersuchen. Angenommen, Sie werfen 100-mal eine Münze und erhalten 52-mal Zahl und 48-mal Kopf. Dann tritt (M, K) 48-mal auf und (M, Z) sowie (D, Z) jeweils 52-mal. Da (D, Z) immer auf (M, Z) folgt, sind die Wahrscheinlichkeiten für alle drei Ereignisse gleich groß – und müssen deshalb ⅓ betragen. Wenn Dornröschen also geweckt wird und beantworten soll, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Münzwurf »Kopf« ergeben hat, müsste sie nach dieser Argumentation ⅓ antworten.

MontagMontagDienstag
KopfZahlZahl
485252

So lautete auch das Fazit des Wissenschaftsphilosophen Adam Elga von der Princeton University, der das Dornröschen-Problem im Jahr 2000 populär machte. Seine Argumentation hat er auch mathematisch stichhaltig ausformuliert. Falls man Dornröschen beim Aufwachen mitteilt, dass heute Montag ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit für (M, Z) und (M, K) unbestrittenerweise gleich groß: P(M, Z) = P(M, K) = ½, wobei »P« für Wahrscheinlichkeit steht. Wenn Dornröschen hingegen aufwacht und erfährt, dass Zahl geworfen wurde, dann könnte dieser Tag gleich wahrscheinlich Montag oder Dienstag sein, also P(M, Z) = P(D, Z) = ½. Gemäß der Wahrscheinlichkeitsrechnung für bedingte Wahrscheinlichkeiten folgt daraus, dass im allgemeinen Fall (ohne dass Dornröschen Informationen erhält) die drei Werte gleich sind: P(M, Z) = P(M, K) = P(D, Z). Und da alle drei Wahrscheinlichkeiten addiert eins ergeben müssen, beträgt jeder einzelne Wert ⅓. Da Dornröschen im Fall von »Zahl« doppelt so häufig geweckt wird wie bei »Kopf«, sollte sie aus Elgas Sicht also mit ⅓ antworten.

Ändern die Extremfälle Ihre Meinung?

Wie würden Sie die Frage nun beantworten, da Sie die zwei Hauptargumente gehört haben? Um ein besseres Gespür für das Dornröschen-Problem zu bekommen, hilft es, das Gedankenexperiment als Extremsituation zu betrachten. Angenommen, man würde Dornröschen im Fall von »Zahl« nicht nur ein zusätzliches Mal am nächsten Tag wecken und befragen, sondern eine Million Mal (vermutlich in kleineren Zeitabständen – denn so lange würde Dornröschen wohl nicht leben). Wenn man sie nun weckt und fragt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Münze wohl auf »Kopf« gelandet ist, scheint die Antwort ½ nicht besonders schlau. Denn falls der Münzwurf einmal »Zahl« ergab, wird Dornröschen eine Million Mal hintereinander befragt – im Fall von »Kopf« hingegen nur ein einziges Mal.

Durch Extremfälle kann man aber auch die andere Position stärken, also die des ½-Lagers. Zum Beispiel könnte man statt eines Münzwurfs eine Sportwette heranziehen: etwa einen Boxkampf zwischen Regina Halmich und Stefan Raab. Falls die ehemalige Box-Weltmeisterin den Moderator besiegt, passiert dasselbe wie in der ursprünglichen Fragestellung bei »Kopf«: Dornröschen wird nur einmal am Montag geweckt. Wenn (wider Erwarten) Raab gewinnen sollte, erwacht Dornröschen hingegen einen Monat lang jeden Tag, also 30-mal in Folge. Die Wahrscheinlichkeit, dass Halmich gegen Raab verliert, ist gering – nehmen wir an, es seien zehn Prozent. Aus Perspektive der ⅓-Fraktion dürfte das aber keine Rolle spielen, Dornröschen müsste nach dem Aufwachen trotzdem auf einen Sieg von Raab setzen. Denn in diesem (wenn auch unwahrscheinlichen) Fall wird sie 30-mal hintereinander geweckt. Das empfand Lewis als unsinnig: Dieses Gedankenexperiment stützt also die Sichtweise der ½-Fraktion.

Sind Sie jetzt vollends verwirrt? Dann sind Sie damit nicht allein. Hat sich Ihre Meinung über das Geschriebene verändert? Meine schon. Vom ½-Lager bin ich jedenfalls nicht mehr vollends überzeugt – der ⅓-Position kann ich inzwischen auch etwas abgewinnen. Stimmen Sie gerne hier ab, um uns mitzuteilen, welchem Lager Sie angehören!

​​Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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