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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wie viele Menschen haben jemals auf der Welt gelebt?

Kann es sein, dass die Hälfte aller Menschen, die jemals 65 Jahre oder älter waren, heute noch leben? Demografen bemühen sich, solche und ähnliche Fragen mit Mathematik zu beantworten.
Eine Illustration einer großen Menschenmenge, bestehend aus stilisierten Figuren in verschiedenen Farben wie Pink, Gelb, Blau und Grün. Die Figuren stehen dicht beieinander auf einem rosa Hintergrund, was ein Gefühl von Vielfalt und Gemeinschaft vermittelt.
Aktuell leben so viele Menschen auf der Welt wie noch nie.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen bis hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen; viele davon können Sie auch im Podcast »Geschichten aus der Mathematik« hören.

Es klingt wie eine einfache Frage, doch je länger man darüber nachdenkt, desto komplizierter wird sie: Wie viele Menschen haben jemals auf diesem Planeten gelebt? Klar, wenn man das so bei Google oder einem KI-Chatbot eingibt, erhält man ziemlich schnell eine Antwort; in der Regel lautet sie 117 Milliarden. Eine Zahl, die – zumindest, wie ich finde – viel zu klein wirkt. Denn aktuell wird die Weltbevölkerung auf 8,2 Milliarden Menschen geschätzt. Das bedeutet also, dass wir knapp sieben Prozent aller jemals geborenen Menschen ausmachen. Wenn man bedenkt, wie lange es die Menschheit schon gibt, scheint das total verrückt.

Noch faszinierender wird es, wenn Sie zu den älteren Semestern gehören. Denn zu den 117 Milliarden Menschen zählt jede Person, die jemals das Licht der Welt erblickt hat – also auch jene, die früh verstorben sind. Die Lebenserwartung ist global gesehen mit der Zeit aber angestiegen. Daher ist zu erwarten, dass der Anteil der heute 65-jährigen oder älteren Menschen noch höher ausfällt als die zuvor genannten sieben Prozent. Und tatsächlich war im Jahr 2014 im »Economist« zu lesen: »Es ist möglich, dass die Hälfte aller Menschen, die jemals 65 Jahre oder älter waren, heute noch leben.« Kann das wirklich stimmen? Und wie berechnet man so etwas überhaupt?

Solche Fragen beschäftigen Demografen schon seit vielen Jahrzehnten. Eine Antwort ist aber nicht ganz einfach zu finden. Eines der größten Probleme bereitet die schwierige Datenlage: Man muss wissen, wie viele Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten gelebt haben, und auch die durchschnittliche Lebenserwartung oder Geburtenrate kennen. Für die heutige Zeit sind solche Daten zwar verfügbar (auch wenn sie nicht immer so verlässlich sind, wie man es vielleicht erwarten würde); doch reist man nur wenige Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück, wird es viel schwieriger. Statistische Analysen und Volkszählungen wurden früher kaum durchgeführt – oder nirgends festgehalten.

Die Menschheit heute und früher

Daher ist man in der Demografie stark auf Schätzungen angewiesen. Und dann stellen sich natürlich noch ein paar grundsätzliche Fragen: Was genau ist mit »Mensch« gemeint? Möchte man wissen, wie viele Wesen der Gattung Homo auf unserem Planeten gewandelt sind, oder ist man nur an Homo sapiens im Speziellen interessiert? Und seit wann bevölkern deren Vertreter unsere Erde?

Bei all diesen offenen Fragen und der unsicheren Datenlage finde ich es umso erstaunlicher, dass einem bei der Abschätzung aller Menschen, die jemals gelebt haben, meist nur eine Zahl als Antwort präsentiert wird, und zwar 117 Milliarden – und nicht ein Zahlenintervall mit einer niedrig und einer hoch angesetzten Schätzung. Das wäre aus wissenschaftlicher Sicht durchaus angebracht. Und es würde der fragenden Person direkt signalisieren: Das Ergebnis ist eine Näherung; die Größenordnung scheint vielleicht plausibel, aber die Frage lässt sich nicht exakt beantworten.

Das Bevölkerungswachstum modellieren

Um die Anzahl überhaupt realistisch beurteilen zu können, braucht man zunächst einmal Datenpunkte. Ab dem 20. Jahrhundert finden sich viele Bevölkerungszahlen zu verschiedenen Zeiten, denn seit den 1850er Jahren finden in vielen Ländern regelmäßig Volkszählungen statt.

Blickt man weiter in die Vergangenheit, lässt sich anhand der Größe von Städten und der Besiedlungsdichte die Anzahl der damals lebenden Menschen zumindest grob abschätzen. Und für noch frühere Zeitpunkte können archäologische Überreste bei der schwierigen Aufgabe helfen. Trotzdem gehen die Erhebungen teilweise stark auseinander: So gibt es Quellen, die die Weltbevölkerung zu Beginn unserer Zeitrechnung mit 170 Millionen Menschen angeben – und andere, die mit 300 Millionen fast die doppelte Anzahl ansetzen.

Zudem stellt sich die Frage, wie weit man überhaupt zurückblicken sollte. Es gibt Schätzungen, bei denen die Demografen bis zu 4,5 Millionen Jahre zurückgehen und von ersten einzelnen Menschen ausgehen. In diesem Fall berücksichtigen sie alle Lebewesen der Gattung Homo. Andere fokussieren sich hingegen auf Homo sapiens – und blicken dafür zwischen 200 000 und 50 000 Jahre zurück.

Über die Jahre hat sich nicht nur die Anzahl der lebenden Menschen, sondern auch die dazugehörige Wachstumsrate stark verändert: Während die Weltbevölkerung früher nur sehr langsam anstieg, scheint sie in den vergangenen Jahrhunderten immer schneller zugelegt zu haben. Hintergrund ist, dass die Geburtenrate zwar über die Jahre abgenommen hat, die Sterberate aber noch stärker.

Einen solchen Verlauf zu modellieren kann sehr schwierig sein. Allerdings lässt sich die Wachstumsrate für kleine Zeitintervalle als konstant annehmen. Das ist ein Trick, den die meisten Demografen anwenden, um die Anzahl aller lebenden Menschen in einem Zeitintervall abschätzen zu können. Man muss also den betrachteten Zeitraum in verschiedene Abschnitte aufteilen, zum Beispiel beginnend mit 50 000 Jahren vor unserer Zeitrechnung bis heute in das Jahr 2025. Je mehr Unterteilungen man vornimmt, desto genauer das Ergebnis.

Wenn man nun annimmt, dass die Geburtsrate g und Sterberate s innerhalb eines Abschnitts konstant sind, dann ändert sich die Bevölkerungszahl N gemäß der folgenden Differenzialgleichung:

N(t)=(gs)N(t)

Da g und s innerhalb eines Intervalls als konstant angenommen werden, lässt sich die Bevölkerungszahl in diesem Bereich durch eine Exponentialfunktion modellieren: N(t) = N0 ekt; wobei die Parameter k und N0 durch die Datenpunkte bestimmt werden.

Damit ist man nun schon fast am Ziel. Um zu ermitteln, wie viele Menschen jemals gelebt haben, muss man zu jedem Zeitpunkt t die Anzahl aller lebenden Menschen summieren. Das gelingt, indem man das Integral der abschnittsweise definierten Funktion über t im jeweiligen Abschnitt berechnet:

t1t2N0ektdt

Allerdings überschätzt man damit die reale Anzahl. Wenn Sie diesen Artikel lesen, dann sind Sie aktuell am Leben; Sie waren es aber höchstwahrscheinlich schon vor zehn Jahren – und haben auch damals zur Weltbevölkerung beigetragen. Deswegen muss man das integrierte Ergebnis noch durch die jeweilige Lebenserwartung der Menschen teilen, die während des betreffenden Zeitraums gelebt haben. Am Ende summiert man die Ergebnisse für alle Zeitabschnitte auf – und tada! Das Resultat sollte der Anzahl an Menschen entsprechen, die jemals gelebt haben.

Ein einfacherer Weg

Tatsächlich könnte man aber auch einfacher vorgehen, wie der Mathematiklehrer und -didaktiker Bruno Scheja aus Köln mit einem Schulprojekt vorgemacht hat. Er hat seinen Schülerinnen und Schülern der 11. Klasse ebenjene Aufgabe gestellt: Sie sollten die Anzahl aller jemals lebenden Menschen abschätzen. Das Integral einer Exponentialfunktion zu berechnen war damals aber noch nicht Teil des Schulstoffs. Die Schülerinnen und Schüler mussten sich also irgendwie anders helfen.

Eine Gruppe entschied sich dafür, den Verlauf der Bevölkerungsgröße in den gewählten Zeitintervallen nicht durch eine komplizierte Exponentialfunktion zu modellieren und zu integrieren, sondern einfach den Mittelwert zu bilden. Falls zum Beispiel im Jahr 1900 rund 1,6 Milliarden Menschen lebten und 1945 schon 2,5 Milliarden, dann nahmen die Schülerinnen und Schüler an, dass innerhalb dieser 45 Jahre im Mittel 2,05 Milliarden Menschen lebten.

Diese Durchschnittswerte multiplizierten sie dann noch mit der jeweiligen Zeitspanne und teilten sie durch die entsprechende Lebenserwartung, die die Menschen zu dieser Zeit hatten. So erhielt die Gruppe eine grobe Schätzung der gesamten Weltbevölkerung, ohne auf komplizierte Rechenmethoden wie Integrale zurückgreifen zu müssen.

Aber wie sehr unterscheidet sich diese Vorgehensweise von der komplizierteren, demografischen Methode?

Ein Rechenbeispiel

Um die beiden verschiedenen Techniken miteinander zu vergleichen, kann man die Bevölkerungszahl beispielhaft berechnen. Dafür muss man sich zunächst auf einen Datensatz festlegen (von denen es viele unterschiedliche gibt). Ich habe mich für eine Version entschieden, die der Demograf Carl Haub in einer 2011 erschienenen Studie verwendet hat. Er nimmt dafür an, dass die Menschheit vor 50 000 Jahren mit zwei Vertretern entstand, und gibt auch die jeweilige Lebenswertung an. Ich habe einen letzten Datenpunkt mit der im Jahr 2025 geschätzten Bevölkerungszahl und Lebenserwartung ergänzt.

JahrBevölkerung (in Mio.) Lebenserwartung
–50 000 0 13
–8000 5 13
1 300 17
1200 450 17
1650 500 22
1750 795 28
1850 1265 29
1900 1656 38
1945 2516 46
2025 8200 73

Insgesamt stehen bei diesem Beispiel zehn Datenpunkte zur Verfügung, die neun Abschnitte begrenzen. Innerhalb dieser kann man passende Exponentialfunktionen definieren, die das jeweilige Wachstum modellieren sollen. Indem man diese durch die gemittelte Lebenserwartung in dieser Zeitspanne dividiert, erhält man die Anzahl der damals lebenden Menschen.

An dieser Stelle befindet sich eine Bildergalerie, die gedruckt leider nicht dargestellt werden kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Auf diese Weise kommt man zum Ergebnis, dass etwas mehr als 93 Milliarden Menschen jemals geboren wurden. Die 117 Milliarden, auf die man im Internet stößt, folgen aus einer neueren Untersuchung, die 2022 mit aktualisierten Bevölkerungsdaten erschien (unter anderem wurde dabei angenommen, dass die Menschheit schon vor 200 000 Jahren entstand).

Führt man mit den obigen Daten aus dem Jahr 2011 die einfachere Berechnungsmethode durch, wie sie die Schülerinnen und Schüler von Scheja genutzt haben, erhält man als Endergebnis mehr als 140 Milliarden – also eine Abweichung von der anderen Methode um mehr als 50 Prozent. Das mag sehr groß erscheinen, aber tatsächlich ist es überraschend, dass man überhaupt in der gleichen Größenordnung landet; schließlich ist der Ausgangspunkt völlig unterschiedlich. Die größten Abweichungen zeigen sich vor allem bei langen Zeiträumen: In diesem Fall überschätzt die Methode der Schüler die Anzahl der Menschen stark.

ZeitintervallAnzahl Menschen nach demografischer Methode (in Mio.)Anzahl Menschen nach vereinfachter Methode (in Mio.)
–50 000 bis –8000 1047 8076
–8000 bis 1 44 344 81 333
1 bis 1200 26 090 26 470
1200 bis 1650 12 559 10 961
1650 bis 1750 2889 2590
1750 bis 1850 3583 3614
1850 bis 1900 2504 2180
1900 bis 1945 2434 2235
1945 bis 2025 6997 7144
Gesamt93 421144 603

Der Vergleich verdeutlicht, dass der angenommene Verlauf der Weltbevölkerung, den man bei einer Modellierung nutzt, das Ergebnis für kürzere Zeitintervalle kaum beeinflusst. Eine feine Unterteilung ist aber natürlich nur möglich, wenn viele Datenpunkte vorliegen. Es läuft demnach immer wieder auf dasselbe Problem hinaus: Es fehlen verlässliche Daten!

Wie viele ältere Menschen haben jemals gelebt?

Die zwei vorgestellten Ansätze ermöglichen es folglich abzuschätzen, wie viele Menschen jemals geboren wurden. Doch wie steht es um die Aussage des Journalisten Fred Pearce, der 2014 behauptet hatte, dass die Hälfte aller mindestens 65-Jährigen heute leben?

Dieser Aussage hat sich ein Team von Demografen um Miguel Sánchez-Romero von der TU Wien im Jahr 2017 gestellt. Sie haben dafür zwei verschiedene demografische Modelle entwickelt: eines, in dem das Bevölkerungswachstum konstant ist (wie in den vorigen Berechnungen), und ein zweites, bei dem sie ein hyperbolisches Wachstum betrachten. Zudem haben die Forschenden verschiedene Datensätze für ihre Modellierungen genutzt, um realistische Fehlerabschätzungen liefern zu können.

Dabei kamen sie zu einem eindeutigen Schluss: »Die Vermutung von Fred Pearce trifft nicht zu. Tatsächlich wäre eine solche Zahl weder theoretisch (bei einer stabilen Bevölkerung) noch empirisch anhand der vorhandenen Daten jemals erreichbar«, schreiben sie in ihrer Arbeit. Für realistische Szenarien könne eine solche Aussage nur für Menschen über 80 Jahre getroffen werden. Ihren Berechnungen zufolge macht der Anteil von über 65-Jährigen in der heutigen Welt zwischen 5,5 und 9,5 Prozent aus. Das heißt: Selbst im extremsten Fall sind wohl nur knapp zehn Prozent aller Menschen, die jemals 65 Jahre oder älter waren, heute am Leben.

Auch wenn damit die ursprüngliche Aussage von Pearce deutlich abgemildert wurde, finde ich das Ergebnis trotzdem noch ziemlich erstaunlich. Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Art Lotterie, die entscheidet, zu welchem Zeitpunkt in der bisherigen Menschheitsgeschichte Sie leben werden. Falls Sie das 65. Lebensjahr erreichen, dann haben Sie eine Wahrscheinlichkeit von rund 1 zu 10, zur heutigen Zeit am Leben zu sein – und das selbst, wenn man die 200 000 vergangenen Jahre mitberücksichtigt!

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