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Freistetters Formelwelt: Wenn das Zählen sich nicht zähmen lässt

Zählen ist einfach - zumindest meistens. Was aber tun, wenn man unendlich viele Objekte vor sich hat? Dann muss man kreativ werden, um überhaupt einen Anfangspunkt zu finden.
aufgewirbelte Sandkörner

Zählen können die meisten Kinder schon, bevor sie in die Schule gehen. Ab einem gewissen Alter erscheint es uns fast intuitiv. Schwierig wird es erst dann, wenn wir bemerken, dass die Zahlen niemals aufhören! Zu verstehen, was wahre Unendlichkeit ist, gelingt aber nicht einmal den meisten Erwachsenen. Und die Mathematiker, bei denen das Zählen quasi zum Beruf gehört, haben die Grenzen dieses Konzepts schon weit überschritten.

Die natürlichen Zahlen sind noch simpel: 1, 2, 3, 4 und so weiter. Hier weiß jeder, wie man beim Zählen vorgehen muss. Aber wie sieht es mit den rationalen Zahlen, also den Bruchzahlen aus? Wir können uns jede Menge Brüche ausdenken: 1/2, 3/7, 26/89 oder 432/5329. Aber ihnen fehlt die natürliche Ordnung der (nicht umsonst so benannten) natürlichen Zahlen. Auf den ersten Blick lassen sich die rationalen Zahlen nicht in eine ordentliche und vor allem abzählbare Reihenfolge bringen. Und damit lässt sich auch nicht beantworten, ob es unendlich viele davon gibt oder vielleicht mehr.

»Mehr als unendlich« klingt nach einem seltsamen Konzept. Es ist auch sehr seltsam, aber trotzdem konnte Georg Cantor Ende des 19. Jahrhunderts zeigen, dass manche Mengen mehr Elemente enthalten, als man mit den natürlichen Zahlen abzählen kann. Trifft das auch auf die rationalen Zahlen zu? Nein – wie Cantor damals als Erster bewies. Eine aktualisierte Version seines Beweises basiert auf dieser Formel:

Beweis von Cantor

Sie beschreibt eine Folge natürlicher Zahlen, die mit 0 und 1 beginnt und deren folgende Werte durch die in der Formel beschriebene Rechenvorschrift bestimmt werden. Die ersten 20 Zahlen der Folge lauten etwa 0, 1, 1, 2, 1, 3, 2, 3, 1, 4, 3, 5, 2, 5, 3, 4, 1, 5, 4 und 7. Die Zahlen werden mal größer, dann wieder kleiner, immer wieder taucht die 1 auf, und es ist kein offensichtliches Muster zu sehen.

Wenn man aber etwas genauer auf diese nach dem Mathematiker Moritz Stern und dem Uhrmacher Achille Brocot benannte »Stern-Brocot-Folge« schaut, wird es plötzlich interessant. Wenn wir der Reihe nach jede Zahl der Folge durch ihren Nachfolger teilen, erhalten wir eine Abfolge rationaler Zahlen: 0/1, 1/1, 1/2, 2/1, 1/3, 3/2, 2/3, 3/1, 1/4, 4/3 und so weiter. Man kann nun zeigen, dass sich in dieser Folge alle möglichen Bruchzahlen finden lassen. Vor allem findet man in der Stern-Brocot-Folge jeden Bruch immer nur in der einfachsten Form. Wir sehen also den Bruch 3/2, aber nicht die identischen Zahlen 6/4, 9/6 oder 12/8.

Die Stern-Brocot-Folge zeigt uns also, dass wir die rationalen Zahlen genau so zählen können wie die natürlichen Zahlen. Wenn wir der Reihe nach alle natürlichen Zahlen in die Rechenvorschrift der Folge einsetzen, erhalten wir am Ende alle existierenden rationalen Zahlen. Oder anders gesagt: Jeder natürlichen Zahl lässt sich genau eine rationale Zahl zuordnen und daraus folgt, dass beide Mengen auf die gleiche Weise unendlich groß sind.

Wenn wir zu den rationalen Zahlen aber auch noch die irrationalen Zahlen hinzunehmen, also die, die sich nicht durch einen Bruch darstellen lassen, sieht die Sache anders aus. Gleich wie sehr man sich anstrengt, man findet – wie Georg Cantor ebenfalls bewies – keinen Weg, diese »reellen Zahlen« irgendwie vernünftig zu ordnen und aufzulisten. Bei jedem Versuch dieser Art wird man zwangsläufig ein paar Zahlen übersehen oder kann neue Zahlen finden, die nicht auf der Liste stehen. Es ist unmöglich, jeder natürlichen Zahl eine reelle Zahl zuzuordnen, so dass keine davon ohne Partner bleibt.

Die reellen Zahlen sind nicht mehr abzählbar. Es gibt »mehr als unendlich« von ihnen. Und das ist für Kinder wie Mathematiker gleichermaßen schwer intuitiv zu verstehen.

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