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Springers Einwürfe: Die Seele einer Fliege

Auf Stress reagieren Insekten verblüffend menschlich, obwohl sie nur entfernt mit uns verwandt sind.
Drosophila melanogaster

Kaum ein Lebewesen ist so gründlich erforscht wie die Schwarzbäuchige Taufliege Drosophila melanogaster. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war sie das Lieblingsobjekt der Genetiker: lediglich vier Chromosomenpaare, leicht in Flaschen zu züchten, einfach zu kreuzen – der ideale Labororganismus.

Neuerdings dient das kleine Fluginsekt vornehmlich als probates Modell für Verhaltensexperimente. Einerseits besteht zwischen ihm und unsereinem bei allem evolutionärem Abstand große genetische Ähnlichkeit, andererseits fällt es nicht unter das Tierschutzgesetz. Fliegen werden gern lebendig an Fische und Amphibien verfüttert, also darf man sie auch ohne Skrupel Tests unterwerfen, die bei höheren Organismen als Tierquälerei verpönt wären.

Beispielsweise hat ein Team um den Neurobiologen Roland Strauss von der Universität Mainz Gruppen von Taufliegen zusammen in enge Glasröhrchen gesperrt und dort tagelang hochfrequenten Vibrationen ausgesetzt. Danach konstatierten die Forscherinnen und Forscher bei den Versuchstieren einen Zustand, den sie in ihrer Veröffentlichung von 2017 mit der menschlichen Depressionskrankheit verglichen. Die Insekten hörten auf, an den Glaswänden hochzuklettern, vielmehr verhielten sie sich völlig passiv. Außerdem verloren die Fliegen, obwohl ausgehungert, jedes Interesse an Süßigkeiten, die sie sonst gierig verzehren.

Damit nicht genug: Sobald den gestressten Insekten das beim Menschen gebräuchliche Antidepressivum Lithiumchlorid verabreicht wurde, normalisierte sich ihr Verhalten wieder; bei unabsichtlicher Überdosierung verfielen sie in manische Hyperaktivität. Wie die Forscher anmerken, werden solche Versuche vielleicht helfen, den noch immer geheimnisvollen Wirkmechanismus von Lithium bei an Depression erkrankten Menschen aufzuklären.

Das Zeitgefühl geht, Einsamkeit kommt

Dem entgegengesetzten Stress unterzog zuletzt eine Gruppe um Wanhe Li und Michael W. Young von der Rockefeller University in New York einzelne Taufliegen. Das Team separierte die Testtiere bis zu eine Woche lang völlig von Artgenossen und beobachtete die Veränderungen, die der Isolationsstress bei den normalerweise sehr sozial lebenden Insekten auslöste. Das im August 2021 publizierte Ergebnis wirkte so menschenähnlich, dass es sogar in den populären Medien kurz für Aufsehen sorgte: Die vereinsamten Taufliegen schliefen schlecht und entwickelten Heißhunger.

Die Biologen haben die hirnphysiologischen Ursachen der Verhaltensänderungen detailliert analysiert. Könnten sie letztlich damit zusammenhängen, dass sozialen Wesen in Isolation das Zeitgefühl abhandenkommt? Teamleiter Michael W. Young ist Chronobiologe; er erhielt 2017 den Nobelpreis für seine Erforschung der »inneren Uhr« bei Drosophila. Anscheinend gerät der biologische Zeitsinn aus dem Takt, wenn er nicht durch Rückkopplung mit dem Verhalten der Artgenossen immer wieder bestärkt wird.

Auch für Menschen ist es vielerorts normal, sich zu bestimmten Zeiten zum Essen einzufinden und bei einem Blick auf die Uhr festzustellen: höchste Zeit, schlafen zu gehen! Nicht erst durch die Vorsichtsmaßnahmen, welche die andauernde Pandemie erfordert, wurden geregelte Mahlzeiten weniger selbstverständlich. Die Arbeitswelt individualisiert sich zusehends. Statt dem Takt einer Stechuhr zu gehorchen, bleiben wir oft eben so lange auf, bis die Arbeit getan ist. Nachts sind viele Fenster hell, und dahinter sitzen Menschen vor Bildschirmen.

Einige werden dann schwer einschlafen, zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten Snacks einwerfen oder im Dunkeln zum Kühlschrank laufen. Ja, ein bisschen fühle ich mich wie eine einsame Schwarzbäuchige Taufliege.

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