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Vorsicht, Denkfalle!: Hinter Ihrem Horizont geht's weiter

Als Fokussierungsillusion bezeichnen es Psychologen, wenn wir genau das, was wir gerade denken, für absolut relevant halten. Wenn wir uns da mal nicht täuschen, warnt unser Kolumnist.
Eine Person steht auf einem Holzsteg und hält eine leuchtende Laterne in der Hand. Der Hintergrund ist dunkel und neblig, was eine mystische Atmosphäre erzeugt. Die Person trägt eine rote Jacke und blickt in die Ferne.
Unser Denken ist wie ein Scheinwerfer: Was im Licht liegt, erscheint wichtig. Doch oft liegt das Wesentliche dahinter.
Irren tun immer die anderen. Man braucht etwas nur oft genug zu hören, um es zu glauben. Und wer sein Gegenüber imitiert, wirkt sympathisch. Der Psychologe und Bestsellerautor Steve Ayan stellt in seiner Kolumne »Vorsicht, Denkfalle!« die wichtigsten Effekte und Verzerrungen der menschlichen Psyche vor.

Es gibt zwei Sätze, die mir das Leben sehr erleichtern könnten, gelänge es mir nur, mich im richtigen Moment an sie zu erinnern. Der erste lautet:

»Nichts ist so wichtig, wie Sie denken, während Sie daran denken.«

Lesen Sie das ruhig noch einmal, es kann nicht schaden. Dieser Satz von eleganter Schlichtheit stammt von dem US-amerikanischen Psychologen und Nobelpreisträger des Jahres 2002 Daniel Kahneman, der uns bereits in der Kolumne über das Gesetz der kleinen Zahl begegnete. Er brachte damit zum Ausdruck, dass unser Denken eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Suchscheinwerfer hat: Was auch immer gerade im mentalen Lichtkegel auftaucht, erscheint uns ebendeshalb wichtig.

Weiterdenken? Ups, vergessen …

Kunststück – wir wissen ja gar nicht, was sich im Dunkel dahinter verbirgt. Wie sollten wir das Unbekannte also für bedeutsam halten? Doch genau das ist der Punkt: Wir bleiben beim aktuell Gedachten allzu leicht stehen und vergessen darüber, noch weiter zu denken.

Das Ganze erinnert an die Geschichte jenes Mannes, der spätabends nach Hause kommt und feststellt, dass er seinen Hausschlüssel verloren hat. Er dreht um und beginnt im Schein der Straßenlaterne an der nächsten Ecke danach zu suchen. Auf die Frage eines hilfsbereiten Passanten, ob er sicher sei, dass er den Schlüssel genau dort verloren habe, erwidert er: »Nein, keine Ahnung. Aber hier sehe ich wenigstens etwas.«

In der dazugehörigen Studie fragten Kahneman und sein Kollege David Schkade einst Studierende, wo sie selbst oder jemand »wie sie« wohl glücklicher werden würden – in Kalifornien oder im Mittleren Westen der USA? Beim Vergleich der beiden Wohnorte dachten die Probanden vor allem an naheliegende Unterschiede: das Wetter (Punkt für Kalifornien!), Strände (Kalifornien!!) oder das kulturelle Angebot (Kalifornien!!!). Andere bedeutende Faktoren wie soziale Bindungen, Lebenshaltungskosten oder Jobs waren weniger augenfällig – und fielen prompt unter den Tisch. So wählten die Jungakademiker meist den »Golden State«, obwohl es sich objektiv betrachtet in Michigan oder Minnesota genauso gut leben ließ.

Nur weil man seine Aufmerksamkeit auf Faktor X richtet, muss dieser keineswegs schwerer wiegen als ein Faktor Y, den man gerade nicht auf dem Schirm hat. Aber so scheint es uns. Frei nach René Descartes: Ich denke, also muss es relevant sein!

Eine Horizonterweiterung täte gut

Kahnemans Beobachtung zeigt, dass wir unterschätzen, was jenseits unseres momentanen geistigen Horizonts liegt. Umso wichtiger wäre es, ihn zu erweitern.

Oh, da fällt mir ein, ich schulde Ihnen ja noch den zweiten lebenserleichternden Satz. Dabei handelt es sich um eine Weisheit des Stoikers Epiktet, der vor fast 2000 Jahren Sklave eines feinen römischen Herrn war:

»Es sind nie die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern immer nur unsere eigenen Ansichten darüber.«

Doch das ist schon das Thema meiner nächsten Kolumne.

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  • Quellen
Schkade, D.A., Kahneman, D., Psychological Science 10.1111/1467–9280.00066, 1998

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