Freistetters Formelwelt: Wie ein kaum bekannter Effekt Asteroiden steuert

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Wenn man in der Astronomie an der Bewegung der Himmelskörper interessiert ist, dann muss man meistens nicht genau wissen, wie sie im Detail beschaffen sind. Es spielt keine Rolle, ob der Mars gigantische Krater und Vulkane besitzt oder Saturn ein spektakuläres Ringsystem. Wichtig ist die Masse dieser Planeten und die gravitative Wechselwirkung zwischen ihnen und der Sonne. Man kann sogar ignorieren, dass die Himmelskörper ausgedehnte Objekte sind. Es reicht, sie in den entsprechenden Gleichungen als abstrakte Massenpunkte zu betrachten.
Aber in manchen Fällen lässt sich die Realität nicht so einfach ausblenden. Wenn man zum Beispiel wissen will, ob ein Asteroid Gefahr läuft, mit der Erde zu kollidieren oder nicht, muss man genau sein. Dann darf man sich auch nicht mehr auf die Schwerkraft beschränken, sondern muss berücksichtigen, dass die Felsbrocken im All tatsächlich Felsbrocken sind und keine Punkte. Und man muss diese Formel kennen:
Das ist eine Möglichkeit, den sogenannten Jarkowski-Effekt mathematisch darzustellen. Im Jahr 1900 hat der polnische Ingenieur Iwan Ossipowitsch Jarkowski überlegt, was eigentlich genau passiert, wenn sich ein um seine Achse rotierender Planet durch das Sonnenlicht erwärmt. Die der Sonne zugewandte Seite des Himmelskörpers wird warm, aber diese warme Seite wird durch die Rotation von der Sonne weggedreht und kühlt dann wieder aus. Die Seite eines Planeten, auf dem gerade Nachmittag herrscht, ist also wärmer als die Vormittagsseite, die sich gerade erst aus der dunklen Nacht in das wärmende Licht gedreht hat.
Das ist so weit keine Überraschung, aber Jarkowski hat noch weitergedacht. Wärme, beziehungsweise Infrarotstrahlung, ist elektromagnetische Strahlung, genauso wie Licht, nur für unsere Augen unsichtbar. Und je wärmer etwas ist, desto mehr dieser Strahlung gibt es ab. Die Nachmittagsseite strahlt also stärker im Infraroten als die Vormittagsseite. Damit ist auch der Strahlungsdruck unterschiedlich stark: Es entsteht eine Kraft, die den Planeten von der Sonne wegschiebt (das gilt für den Fall einer Rotation in Richtung der Umlaufbewegung um die Sonne; rotiert der Planet andersherum, wird er an die Sonne herangeschoben).
Auf die Details kommt es an
Jarkowski war nicht in der Lage, die Größenordnung dieser Kraft abzuschätzen und seine Arbeit geriet in Vergessenheit. Der estnische Astronom Ernst Öpik hat sie aber aufgestöbert und 1951 erneut veröffentlicht. Öpik hat sich dafür interessiert, wie Asteroiden aus dem Bereich zwischen Jupiter und Mars in die Nähe der Erde gelangen können. Ihm war klar, dass die von Jarkowski beschriebene Kraft viel zu klein ist, um einen Planeten bewegen zu können. Aber bei Asteroiden, die nur ein paar dutzend bis hundert Meter groß sind, könnte die von Jarkowski beschriebene Kraft einen relevanten Effekt haben.
Der erste direkte Nachweis fand im Jahr 2003 beim gut 300 Meter großen Asteroid Golevka statt. Seine Bewegung wurde extrem genau beobachtet und konnte nur dann korrekt beschrieben werden, wenn man die durch den Jarkowski-Effekt verursachte Kraft berücksichtigt. Die Umlaufbahn von Golevka verschiebt sich dadurch während der zwölf Jahre dauernden Beobachtungen um 15 Kilometer. Das ist natürlich nur ein winziger Betrag, aber über lange Zeiträume kann der Jarkowski-Effekt einen relevanten Einfluss haben.
Das gilt ganz besonders, wenn es um Asteroiden geht, die mit der Erde kollidieren können. Da kommt es unter Umständen auf jeden Kilometer an. Denn es sind ja die realen Felsbrocken, mit ihrer Rotation, ihrer Temperatur und allen anderen Eigenschaften, die uns im Zweifelsfall auslöschen, und keine abstrakten Massenpunkte. Das Wissen über das Ausmaß des Jarkowski-Effekts ist fundamental wichtig, um das Risiko korrekt einschätzen zu können.
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