Schlichting!: Die bedrohte Pracht der Eisblumen
Eine fast ausgestorbene Spezies von Blumen wächst an Fenstern: Eisblumen. Sie sind dem technischen Fortschritt zum Opfer gefallen, vor allem den doppelt- und inzwischen dreifachverglasten Fensterscheiben sowie den Zentralheizungen. Ich erinnere mich noch gerne an meine Kindheit, wenn ich im Winter an sehr kalten Tagen frühmorgens in die Küche ging. Dann suchte ich die mit immer wieder neuen Eisblumen besetzten Fensterscheiben nach besonders interessanten Blüten ab.
Entscheidend dafür, dieses Phänomen bewundern zu können, sind zwei Dinge: kalte Fensterscheiben und feuchte Luft im Inneren des Raums. Einfach verglaste Scheiben leiten Wärme gut. Daher nimmt die Innenseite sehr schnell nahezu die Außentemperatur an.
Während die Scheibe in Kontakt mit der Luft und dem darin enthaltenen Wasserdampf steht, prasseln die Moleküle ständig in zufälligen Bewegungen auf die Scheibe. Dabei kühlen sich die Luft und der Wasserdampf durch Wärmeleitung und Konvektion ab.
An der Scheibe sinkt mit abnehmender Temperatur die maximal mögliche Wasserdampfkonzentration. Sie wird schließlich kleiner als die tatsächlich vorhandene absolute Wasserdampfkonzentration. Man sagt auch, der Taupunkt werde unterschritten.
In diesem Fall muss der überschüssige Wasserdampf sich entweder verflüssigen oder – wie im vorliegenden Fall der negativen Temperaturen – in den festen Aggregatzustand übergehen. Genau das passiert: Wasserdampfmoleküle kristallisieren an der kalten Schreibe direkt, ohne den Umweg über die flüssige Phase zu nehmen. Ein solcher Übergang heißt Resublimation. Das Gegenteil davon, die Sublimation, führt beispielsweise dazu, dass sich bei großer Kälte Schnee direkt in Wasserdampf umwandelt.
Auf diese Weise entstehen auf der Fensterscheibe zunächst Eiskristalle mit einer hexagonalen Grundform. In dieser Sechseckigkeit kommt die Struktur zum Ausdruck, die in den Wassermolekülen durch die Bindungskräfte vorgegeben wird.
Damit die Wassermoleküle überhaupt an der Scheibe andocken können, müssen sogenannte Kristallisationskeime vorhanden sein. Das sind zum Beispiel Schmutzpartikel, Kratzer und andere Störungen auf der Oberfläche. Ideale Keime sind die Eiskristalle selbst, an die sich die Moleküle des Wasserdampfs bevorzugt anlagern.
Die Art und Weise, wie sich die Moleküle anlagern, wird ganz allgemein durch eine grundlegende Tendenz der Natur bestimmt: Bei allen von selbst ablaufenden (irreversiblen) Vorgängen wird möglichst viel Energie an die Umgebung abgegeben. Konkret bedeutet das für das Wachstum der Eisblumen, dass dabei die Oberflächenenergie des Kristalls minimal bleibt. Diese ist proportional zur Größe der Oberfläche. Deswegen lagern sich die Wassermoleküle vor allem an den Kanten des bestehenden Kristalls an, und die entstehenden Strukturen breiten sich bevorzugt in der Ebene aus.
Demnach könnte man erwarten, dass sich die Scheibe mit radial wachsenden sechseckigen Flächenkristallen überzieht. Stattdessen beobachtet man, wie reich strukturierte, zerklüftete Gebilde entstehen – die Eisblumen. Ausschlaggebend dafür ist ein weiteres Naturgesetz: die Energieerhaltung. Ihr zufolge wird bei der Kristallisation des Wasserdampfs an der Scheibe genauso viel Energie frei, wie beim Schmelzen und Verdampfen des gefrorenen Wassers aufgenommen wurde. Diese Energie ist bei Wasser im Vergleich zu anderen Substanzen besonders groß.
Widerstreitende Tendenzen
Durch die frei werdende Energie könnte sich die Scheibe lokal erwärmen. Dies würde jede weitere Kristallisation bremsen. Das vermeiden die entstehenden Eisstrukturen, indem sie sich möglichst nach außen ausbreiten. Aber auch diese Entwicklung stößt schnell an ihre Grenzen. Denn einerseits sind dann zwar die Bedingungen besser dafür, die Kristallisationsenergie an die Umgebung abzugeben. Andererseits nimmt dabei die Grenzfläche zu, was wiederum dem Prinzip der minimalen Oberflächenenergie entgegensteht. Daher stellt sich insgesamt ein Kompromiss zwischen beiden Wachstumstendenzen ein.
Er besteht darin, dass den Ästen, die sich vom Zentrum entfernen, seitliche Triebe wachsen. Sie erschließen in der Nähe ein freies Feld. Mit zunehmender Länge können sich dann erneut Bedingungen ergeben, die eine weitere Verzweigung ermöglichen. Auf diese Weise entstehen Fraktale – farnartige Strukturen. Bei alldem spielt der Zufall eine entscheidende Rolle. Das macht sich in der global zwar selbstähnlichen, lokal aber unterschiedlichen, organisch wirkenden Gestalt der Eisblumen bemerkbar.
In der Praxis weichen die Strukturen jedoch oft stark von einem idealen Fraktalmuster ab. Denn neben den energetischen Bedingungen wirkt auch noch der Untergrund der Scheibe entscheidend bei der Gestaltbildung mit. Winzige Kratzer, Unebenheiten und Schmutzpartikel stellen nicht nur Keime für die Kristallisation dar, sondern bestimmen auch deren konkrete Gestalt und die Ausbreitungsrichtung mit.
»So soll mir am Fenster auf eisigem Feld / Erstehn eine fröhliche, blühende Welt!«Eugenie Marlitt, deutsche Schriftstellerin
Das Ergebnis sind dann oft sehr komplexe Gebilde. Wie ich durch eigene Experimente feststellte, können selbst starke Winde Einfluss nehmen, die während der Kristallisationsvorgänge auf die Scheibe prallen und mehr oder weniger starke Abkühlungen bewirken.
Zwar bieten die Eisblumen nicht die Farbenpracht ihrer organischen Verwandten. Doch im Gestaltreichtum stehen die winterlichen Strukturen der botanischen Vielfalt des Frühlings und Sommers kaum nach.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.