Die fabelhafte Welt der Mathematik: Tiere können rechnen – manchmal sogar besser als Menschen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tourte der Mathematiklehrer Wilhelm von Osten mit seinem Pferd durch deutsche Städte. Die Menschen waren von dem, was sie sahen, schwer beeindruckt. Von Osten war es scheinbar gelungen, seinem Pferd namens Hans das Rechnen beizubringen. Und nicht nur das: Hans konnte wohl auch menschliche Sprache verstehen, lesen und verstand Zeit- und Datumsangaben. Auf die Frage: »Wenn der achte Tag des Monats ein Dienstag ist, auf welches Datum fällt dann der darauf folgende Freitag?« antwortete Hans beispielsweise, indem er elfmal mit seinem Huf auf den Boden klopfte.
Das Pferd ging als »Kluger Hans« in die Geschichte ein und erlangte sogar internationale Aufmerksamkeit, spätestens als die »New York Times« im Oktober 1904 über die Aufsehen erregenden Darstellungen berichtete. Hans schien das zu bestätigen, was Charles Darwin wenige Jahrzehnte zuvor vermutet hatte: Auch Tiere besitzen menschenähnliche kognitive Fähigkeiten.
Es dauerte allerdings noch etwas, bis die tierische Intelligenz wissenschaftlich untersucht wurde. Erst in den 1930er Jahren widmete sich der Verhaltensforscher Otto Koehler dieser Aufgabe. Er führte mit unterschiedlichen Säugetieren und Vögeln Experimente durch, um herauszufinden, ob sie ein Zahlenverständnis besitzen. Können die Tiere beispielsweise größere Mengen von kleineren unterscheiden? Dafür präsentierte er ihnen zwei Tafeln mit unterschiedlichen aufgedruckten Symbolen, und die tierischen Probanden wurden mit Futter belohnt, wenn sie auf die Tafel mit der kleineren Anzahl deuteten.
Affen: Die Stars unter den Tieren
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Verhaltensforscher immer mehr auf Primaten. Das ist nicht allzu überraschend. Da sie unsere nächsten Verwandten sind, war die Hoffnung groß, bei ihnen komplexe mathematische Fähigkeiten vorzufinden. Und tatsächlich: Die Tiere können nicht nur verschieden große Mengen voneinander unterscheiden, sondern auch kleinere Werte miteinander addieren oder subtrahieren. Zudem ist es möglich, den Tieren symbolische Zahlzeichen beizubringen. So können Affen lernen, dass das Symbol 7 für sieben Objekte steht – unabhängig davon, um welche Gegenstände es sich genau handelt.
Bei manchen Aufgaben übertreffen Primaten sogar Menschen, wie ein im Jahr 2007 durchgeführtes Experiment zeigte: Forschende blendeten 210 Millisekunden lang zufällig angeordnete Zahlen auf einem Bildschirm ein und bedeckten die Zahlen sogleich mit weißen Quadraten. Ein geschulter junger Schimpanse war dann in der Lage, durch Berührung der weißen Quadrate nacheinander die darunter verborgenen Zahlen in aufsteigender Reihenfolge anzuzeigen. An einer solche Aufgabe scheitern Menschen kläglich – sie müssen die Zahlen weitaus länger sehen.
Vögel stehen Affen in nichts nach
Fast ebenso häufig befassen sich Menschen mit den mathematischen Fähigkeiten von Vögeln. Das illustriert eine Geschichte, die seit dem 19. Jahrhundert kursiert. Demnach gab es einen Jäger, der eine Krähe erschießen wollte und dabei stets scheiterte. Wann immer das Tier ihn sah, flog es weg und kehrte erst wieder an seinen Nistplatz zurück, wenn der Jäger gegangen war. Also überlegte sich der Jäger eine List: Er tauchte mit mehreren Personen auf, was den Vogel vertrieb. Nach einiger Zeit verließen alle Menschen den Nistplatz – bis auf den Jäger, der sich weiterhin versteckte. Der Legende nach funktionierte dieser Trick nur, wenn die Gruppe mehr als fünf Personen umfasste. In einem solchen Fall konnte die Krähe nicht mehr bestimmen, ob sich noch eine Person versteckt hielt oder nicht. Bei fünf Menschen oder weniger war das Tier schlau genug, um zu merken, ob noch eine Person fehlte. Die Krähe konnte also bis fünf zählen.
Das ist erst einmal bloß eine Überlieferung und kein wissenschaftlich erbrachter Beweis. Doch offenbar erkannten Menschen schon früh, dass auch Vögel ein gewisses mathematisches Talent besitzen. Ein imponierendes reales Beispiel dafür war der Graupapagei Alex.
Als die Chemikerin Irene Pepperberg in den 1970er Jahren ihre Doktorarbeit beendete, kaufte sie sich einen Papagei, den sie Alex nannte. Mehr als 30 Jahre lang arbeitete sie mit ihm, brachte ihm Begriffe bei und führte Experimente mit ihm durch, um seine kognitiven Fähigkeiten zu testen. Unter anderem konnte Alex wohl leichte Rechenaufgaben lösen und Zahlen voneinander subtrahieren oder sie addieren. Das deckt sich mit einer im Jahr 2011 veröffentlichten Studie, die belegt, dass Vögel ebenso wie Affen die abstrakte Bedeutung einer Zahl verstehen: »Drei« kann sowohl für drei Äpfel als auch für drei Bauklötze stehen.
Beeindruckenderweise verstand Alex offenbar das Konzept der Null. Ohne dass es ihm beigebracht wurde, assoziierte er das ihm bekannte Wort »nichts« mit null: Er nannte es als Ergebnis, als er beispielsweise den Unterschied zwischen zwei gleich großen Mengen angeben sollte.
Schlaue Biene
Das Konzept der Null zu verstehen, gilt als besonderer Ausdruck kognitiver Fähigkeiten. Kein Wunder: Schließlich dauerte es bis ins 16. Jahrhundert, bis die Null ihren Weg nach Westeuropa fand. Und auch Kinder erfassen erst etwa ab einem Alter von vier Jahren das Konzept des Nichts. Tatsächlich sind Primaten und Papageien nicht die einzigen Tiere, die ein Verständnis für die Null haben. Auch Bienen können damit umgehen.
Die mathematischen Fähigkeiten von Insekten werden erst seit Mitte der 1990er Jahre untersucht – und wurden damals mit großer Skepsis beäugt. Doch wie zahlreiche Studien seither demonstriert haben, sind diese Lebewesen nicht zu unterschätzen. Bienen unterscheiden etwa kleinere von größeren Zahlen – und verstehen sogar, dass nichts weniger ist als eins. Sie haben also ein Verständnis für die Null, wie eine 2018 erschienene Studie belegt, und übertreffen damit die mathematischen Fähigkeiten von Kleinkindern.
Vögel meistern das Ziegenproblem
Bei statistischen Aufgaben können Vögel selbst erwachsene Menschen übertreffen. Ein Beispiel dafür ist das berühmte »Ziegenproblem« – in Deutschland kennen wir das Konzept etwa von der Spielshow »Geh aufs Ganze!«. Beim Ziegenproblem muss ein Kandidat eine von drei Türen auswählen. Hinter zweien befindet sich eine Ziege, also eine Niete, hinter der anderen der Hauptgewinn. Der Kandidat entscheidet sich zufällig für eine Tür. Anstatt das Spiel hier zu beenden, öffnet der Moderator eine andere Tür, hinter der sich eine Niete befindet. Nun stellt er dem Kandidaten die entscheidende Frage: »Bleiben Sie bei Ihrer Wahl, oder entscheiden Sie sich um?«
Intuitiv sagen fast alle Menschen, die zum ersten Mal von diesem Problem hören, dass es keine Rolle spielt, ob man sich umentscheidet oder nicht. Aber tatsächlich verdoppelt man seine Gewinnwahrscheinlichkeit, wenn man nach Öffnen einer Tür eine andere wählt, wie ich bereits in einer früheren Kolumne erklärt habe.
Während diese Lösung noch heute – Jahrzehnte nachdem sie erstmals vorgestellt wurde – unter Menschen für viele Diskussionen sorgt, sehen Tauben das Ergebnis deutlich schneller ein, wie Verhaltensforscher im Jahr 2010 feststellten. Dazu versteckten sie hinter einer von drei Türen Futterproben und spielten die Gameshow mit den Vögeln nach. Schon nach wenigen Wiederholungen lernten die Tiere, dass es sinnvoll ist, sich umzuentscheiden.
Das tragische Ende vom Klugen Hans
Und was ist mit Hans, dem Pferd vom Anfang der Kolumne? Der hätte das Ziegenproblem doch sicher auch geknackt? Soweit bekannt, wurde dieses Spiel nie mit ihm durchgeführt. Trotzdem lässt sich absehen, dass Hans es hätte lösen können – allerdings nur, wenn Wilhelm von Osten bei ihm gestanden und die richtige Antwort gewusst hätte. Das liegt nicht daran – wie man vermuten könnte –, dass von Osten die Zuschauer bei seinen Vorführungen täuschte und Hans irgendwie heimlich die Lösung übermittelte. Tatsächlich war er vom Talent seines Pferds überzeugt und arbeitete ohne Tricks.
Das bestätigte auch die 13-köpfige »Hans-Kommission«, die im Jahr 1904 erklärte, dass es bei den Vorstellungen von Hans und von Osten keine faulen Tricks gab. Der Psychologe Oskar Pfungst war allerdings weiterhin skeptisch und führte weitere Versuche mit dem Tier durch. Unter anderem ließ er das Pferd ohne Zuschauer auftreten, um auszuschließen, dass jemand im Publikum hilfreiche Tipps lieferte. Zudem ließ er bei einigen Versuchen andere Personen die Fragen stellen, verband Hans die Augen oder bereitete Aufgaben vor, deren Lösungen dem Fragenden unbekannt waren.
Hans lieferte auch dann die richtige Antwort, wenn andere ihm eine Aufgabe präsentierten. Von Osten betrog also nicht. Aber: Waren Hans' Augen verbunden, versagte er. Gleiches geschah, wenn der Fragesteller die Antwort nicht kannte. Damit stand für Pfungst fest: Hans konnte anhand kleinster Signale an der Körpersprache des Fragenden ablesen, wann er die richtige Antwort gab – und hörte dann auf, mit den Hufen zu schlagen. Hans war also wirklich extrem talentiert, jedoch nicht bei mathematischen Lösungen, sondern in seiner Beobachtungsgabe.
Auch wenn diese Erklärung durchaus schlüssig war, glaubte von Osten nicht recht daran und tourte bis zu seinem Tod im Jahr 1909 weiter mit Hans. Danach nahm dessen Schicksal eine tragische Wendung. Hans wechselte mehrmals seinen Besitzer, bevor er zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Militär eingesetzt wurde. Im Jahr 1916 wurde Hans entweder während einer Schlacht getötet oder von hungrigen Soldaten verspeist – ob sie wohl wussten, wie schlau dieses Tier war?
Hans' Fähigkeiten sind seither in die Geschichte eingegangen – und damit auch der »Kluger-Hans-Effekt«. Inzwischen wird in der Verhaltensforschung immer penibel darauf geachtet, dass die Versuchstiere keinen direkten Kontakt zum Experimentator haben.
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