Freistetters Formelwelt: Wie viele Ableitungen braucht man zur Beschreibung der Welt?

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Vor Kurzem habe ich mich – aus rein beruflichen Gründen, wie ich betonen möchte – mit der Uroflowmetrie beschäftigt. Das ist die medizinische Harnflussmessung, bei der nicht einfach nur bestimmt wird, wie viel Urin man während einer bestimmten Zeit ausscheidet (das sogenannte Miktionsvolumen), sondern auch die Harnflussrate, also die Änderung des Volumens über die Zeit. Und sogar die »Miktionsbeschleunigung«, also die zeitliche Variation der Harnflussrate, ist von medizinischer Bedeutung.
Ich hatte nicht damit gerechnet, bei einem Thema wie dem Urinieren plötzlich auf eine zweite Ableitung zu stoßen. Aber bei genauerer Betrachtung ist das gar nicht mehr so überraschend. Denn die erste Ableitung beschreibt Veränderungen, und wenn sich diese Veränderungen ändern, ist das aus medizinischer Sicht selbstverständlich von Bedeutung.
Urologie soll aber dennoch nicht das Thema dieser Kolumne sein, sondern die Formel, auf die ich – inspiriert durch die Miktionsbeschleunigung – gestoßen bin:
Mit j wird der »jerk« beschrieben, auf Deutsch Ruck. Es handelt sich um die Veränderung der Beschleunigung, also um die dritte Ableitung des Wegs nach der Zeit. Der Ruck ist eine Größe, die sich physikalisch intuitiv verstehen und in unserem Alltag erleben lässt.
Wir alle wissen, wie sich die zweite Ableitung des Wegs anfühlt: Das spüren wir zum Beispiel in einem Auto, das konstant beschleunigt, dessen Geschwindigkeit also gleichmäßig steigt. Wir wissen aber auch, was passiert, wenn ein Auto plötzlich beschleunigt, sich die Beschleunigung also im Lauf der Zeit ändert. Dann gibt es einen Ruck - und im Idealfall vermeidet man so etwas.
Die dritte Ableitung des Wegs wird daher beim Bau von Aufzugsanlagen berücksichtigt, um Sicherheit und Komfort zu erhöhen. Aber auch bei der Konstruktion von Getrieben oder bei der Planung von Achterbahnen ist es wichtig, darauf zu achten, dass der Ruck gewisse Grenzen nicht überschreitet.
Snap, Crackle und Pop
Das aber bedeutet, dass man sich natürlich ebenso mit der zeitlichen Veränderung des Rucks beschäftigen muss – und somit mit der vierten Ableitung des Wegs. So eine Ruckänderung wird Snap genannt. Wir können sie als eine Art harten Stoß spüren. Selbstverständlich kann sich der Snap ändern und diese Änderung kann zeitlich variabel sein.
Für die fünfte und sechste Ableitung des Wegs verwendet man die – eher humorvoll gemeinten – Begriffe »Crackle« und »Pop«, benannt nach den Zeichentrickfiguren Snack, Crackle und Pop, die Frühstückszerealien in den USA bewerben. Die Variation des Snap ist aber physikalisch durchaus relevant, denn je kleiner sie ist, desto weniger Vibrationen treten auf. Je glatter diese höheren Ableitungen sind, desto gleichmäßiger verlaufen die Bewegungen, was einerseits aus einer rein mechanischen Sicht die Lebensdauer der entsprechenden Maschinen verlängert und andererseits auch die ihrer etwaigen menschlichen Insassen oder Benutzer.
Ich habe mich gefragt, ob es vielleicht noch höhere Ableitungen des Wegs gibt, die relevant sind. Fündig geworden bin ich in einem Buch über Robotik, das sich in einem Kapitel mit der Positionierung von Roboterarmen beschäftigt. Dort werden Begriffe für die siebte bis zehnte Ableitung genannt: Larz, Bong, Jeeq und Sooz. Der Autor weist jedoch darauf hin, dass es dafür kaum relevante Anwendungen gibt, und er liefert auch keine Hinweise auf die Herkunft dieser Bezeichnungen.
Über all das kann man in Ruhe nachdenken, wenn man das nächste Mal auf der Toilette mit den diversen Ableitungen des Miktionsvolumens beschäftigt ist.
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