Star-Bugs – die kleine-Tiere-Kolumne: Weißlinge im Frost

Der Winter lässt die Welt erstarren. Die Natur hat ganz unterschiedliche Strategien entwickelt, um Tiere über diese eher lebensfeindliche Jahreszeit zu bringen. »Weißlinge halten einen sehr tiefen Winterschlaf«, sagt Philipp Lehmann. Der Insektenforscher ist Professor für Tierphysiologie an der Universität Greifswald. Zuvor war er an der Universität Stockholm und hatte mit seinem dortigen Team untersucht, welche Strategien der Kleine Kohlweißling (Pieris rapae) und der Grünader- oder Raps-Weißling (Pieris napi) nutzen, um ihre Populationen über den Winter zu bringen: »Unser Forschungsgebiet ist Winter-Biologie.«
Nur die allerwenigsten Insekten bleiben die kalte Jahreszeit über aktiv – dazu gehören etwa die Wintermücken. Manche Schmetterlingsarten wie der Admiral (Vanessa atalanta) ziehen in wärmere Gefilde und kehren im Frühjahr zurück. Die meisten Falter legen eine Art Winterschlaf ein, die so genannte Diapause. Das tun sie in allen Stadien. Einige Arten überdauern als Raupen, andere als Eier, wieder andere als adulte Tiere; der Zitronenfalter (Gonepteryx rhamni) ist dafür ein Paradebeispiel. Er kann sich sogar einfrieren lassen. Etliche Schmetterlingsarten überwintern als Puppen, wie der Kleine Kohlweißling, der Grünader-Weißling und alle anderen Weißlinge.
Die beiden Arten, die die Greifswalder Entomologie-Fachleute verglichen haben, sind sich auf den ersten Blick ziemlich ähnlich. Beide haben weiße Flügel mit schwarzen Flecken an den Vorderflügelspitzen. Weibchen weisen zwei solche Flecken auf den Vorderflügeln auf, Männchen nur einen. Die Flügelunterseiten sind bei beiden Arten hellgelb, fast cremefarben. Deutlichster Unterschied: Beim Grünader-Weißling sind die Adern auf der Unterseite des Hinterflügels von graugrünen Schatten umgeben.
Exponiertes Auftreten
Beide Schmetterlingsarten mögen dieselben Lebensräume: halboffene bis offene landwirtschaftliche Flächen. Es gibt sie aber auch in jungen Wäldern mit kleinen Bäumen und Büschen sowie an Waldwegen oder auf Lichtungen. »Den Kleinen Kohlweißling findet man auf exponierten Stellen, wo es in der Sonne sehr warm wird«, erklärt Lehmann, »der Grünader-Weißling bleibt eher an den Rändern zwischen Wiesen und Wäldern.«
Bei der Nahrung sind sie sich noch ähnlicher: »Beide haben genau dieselben Futterpflanzen«, sagt Lehmann. Das haben seine Experimente im Labor gezeigt: Die Falter fressen und saugen an den gleichen Pflanzen und entwickeln sich gleich gut darauf. Dazu gehören wilde Kreuzblütler (Brassicaceae) wie Schaumkräuter (Cardamine), Kressen (Lepidium) oder Senfe (Sinapis). Ihr Speiseplan ist ziemlich vielfältig, darum findet man sie in der Natur oft auf vielen verschiedenen Pflanzen. In Deutschland schaffen die beiden Weißling-Arten mindestens zwei, unter guten Bedingungen auch einmal drei oder vier Generationen pro Sommer.
Abweichende Kältetoleranz
Unterschiede zeigen sich an den Rändern des Verbreitungsgebiets. Das haben Lehmann und sein Team in Schweden untersucht: Der Grünader-Weißling kommt bis weit in den Norden, also in Lappland vor, der Kleine Kohlweißling hingegen stößt bereits in der Mitte Skandinaviens an die Grenze seiner Ausbreitung.
Um die Hintergründe dieser Beobachtungen zu verstehen, schaute sich das Team von den Universitäten in Stockholm und Greifswald an, wo die Schmetterlinge ihre Eier ablegen. Dazu stellten die Biologinnen und Biologen junge Rapspflanzen, die alle gleich alt und gleich gut entwickelt waren, an verschiedenen Stellen in Weißling-Lebensräumen bei Stockholm auf – mal an schattigeren, mal an wärmeren Orten. Nach einer Woche holten sie die Pflanzen zurück ins Labor und zählten, wie viele Eier die Weibchen der beiden Schmetterlingsarten daran abgelegt hatten. »Wir konnten sehr schön zeigen, dass der Grünader-Weißling ein bisschen kältere Habitate gewählt hatte und der Kleine Kohlweißling ein bisschen heißere und trockenere Lebensräume«, sagt der Insektenforscher.
In einem weiteren Schritt züchteten die Fachleute aus den Eiern Schmetterlinge und untersuchten, wie sich deren Nachwuchs bei verschiedenen Temperaturen vom Ei zum adulten Tier entwickelte. Außerdem dokumentierten sie, wie schnell die Schmetterlinge an Masse zulegten und zu welcher Größe sie heranwuchsen. Und sie zählten, wie viele Tiere bei welcher Temperatur starben.
Zweitgeneration kurbelt Vermehrung an
Die Unterschiede waren klein, aber bedeutsam: Die Kleinen Kohlweißlinge wuchsen etwas schneller – sowohl unter wärmeren als auch unter gemäßigteren Bedingungen. Und es überlebten mehr Tiere, wenn die Temperaturen höher lagen. »Das unterstützt sehr stark die Idee, dass die Tiere Wärmespezialisten sind«, sagt Lehmann. Während die meisten Kleinen Kohlweißlinge im schwedischen Winter sterben, schaffen es die Falter, sich den Sommer über rasant zu vermehren. Dafür benötigen sie aber eine zweite Generation. Im Norden Skandinaviens ist der Sommer für diese zweite Generation zu kurz, so dass die Tiere sich dort nicht etablieren.
Der Grünadler-Weißling hingegen bringt genügend Tiere durch den Winter, um im Jahr darauf in einer einzigen Generation stabile Populationsgrößen aufrechtzuerhalten. Das ermöglicht es ihm auch, hoch ins Gebirge vorzudringen. »Diese Schmetterlinge sind wirklich Spezialisten darin, den Winter zu überleben«, sagt Lehmann.
Wie der Grünader-Weißling genau mit der Kälte zurechtkommt, hat sich Lehmann ebenfalls angeschaut. Und eine ganze Reihe von Anpassungen gefunden. Grünader-Weißlinge können ihre Stoffwechselraten auf ein Minimum herunterfahren, sogar für mehrere Tage ganz aufhören zu atmen. Außerdem fand der Biologe Frostschutzmittel in ihrem Körper, ähnlich jenen, wie Menschen sie in Autos nutzen: Glycerol, Alanin und Trehalose. Und die Tiere bilden Proteine, die sie gegen die Kälte schützen.
Klein begonnen, aber rasant zugelegt
Auf die Idee zu diesem Forschungsprojekt kam das deutsch-schwedische Team, als es sich Langzeitdaten des »Artportalen« anschaute, eines schwedischen Citizen-Science-Projekts. Dort verzeichnen Hobbywissenschaftler, wann sie wo welche Art beobachtet haben. Es zeigte sich: In Schweden unterschieden sich die Populationsgrößen der beiden Spezies übers Jahr betrachtet erheblich.
Die Populationen des Kleinen Kohlweißlings begannen jedes Jahr klein und legten den Sommer über rasant zu. Der Grünadler-Weißling hingegen startete mit einer größeren Population ins Jahr, vermehrte sich im Lauf der Monate dann aber weniger stark. Die Studie von Lehmann und seinem Team zeigt, dass sich die Unterschiede damit erklären lassen, wie gut die Insekten durch den Winter kommen.
Viele Fachleute vernachlässigten diesen Aspekt und konzentrierten sich zu sehr auf den Sommer, findet der Insektenforscher. Dabei leben Weißlinge, die überwintern, deutlich länger als ihre Eltern im Sommer vor ihnen oder ihr Nachwuchs in der warmen Jahreszeit danach – zumindest, wenn es mehrere Generationen gibt. »Die Individuen im Sommer leben nur vergleichsweise kurz, aber im Winter müssen sie acht Monate überstehen«, erklärt Lehmann. Eine lange Zeit voller Gefahren. Wenn sich die Tiere im Spätsommer einen Ort für die Diapause suchen, sollte er geschützt genug sein, um etwa vor hungrigen Vögeln verborgen zu bleiben und zugleich der Kälte zu trotzen.
Noch viele Wissenslücken
»Obwohl wir diese Tiere in Europa schon seit 200 bis 300 Jahren untersuchen, wissen wir kaum, wo genau sie überwintern«, gesteht Lehmann. Es sei schwierig, ihre Puppen zu finden, weil die sehr gut getarnt seien. Was der Forscher über die Wahl der Überwinterungsplätze weiß, hat er hauptsächlich in Laborexperimenten herausgefunden.
»Labor« heißt in diesem Fall, dass die Fachleute die Bedingungen komplett kontrollieren, also Ökosysteme in Klimakammern einrichten. Oder sie bauen in der Natur kleine Käfige auf. Die halten Fressfeinde fern, aber sonst sind die Umweltbedingungen viel realistischer als in den Klimakammern.
Bei ihren Experimenten haben Lehmann und seine Mitstreiter beobachtet, dass die Raupen sowohl Büsche als auch mehrjährige Sträucher oder kleine Bäume aufsuchen, ebenso holzige Triebe von Kräutern – also Pflanzenteile, die den Winter über mit einiger Wahrscheinlichkeit aufrecht stehen bleiben. Das ist ein guter Grund, solche vermeintlich hässlichen Stängel in der kalten Jahreszeit im Garten stehen zu lassen. Viele Insekten benötigen sie, um den Winter zu überdauern.
Die Raupen kriechen die Stängel oder Stämmchen 10 bis 15 Zentimeter hinauf und bauen ihre Puppenhülle an die Rinde. Die Spitze ragt schräg nach oben wie bei einem Pflanzentrieb. Zusätzlich sichern die Tiere die Puppenhülle mit einem Seidenfaden, den sie wie einen Gürtel um den Stängel und die Mitte der Puppenhülle schlingen. Darum nennt man die Raupen auch Gürtelpuppen. Der Aurorafalter (Anthocharis cardamines) gehört übrigens ebenfalls zu den Weißlingen und macht es ähnlich.
Die ersten Vorbereitungen für die Diapause beginnen im Spätsommer. Bereits Ende Juli und Anfang August, wenn die Tage langsam kürzer werden, ziehen sich die ersten Weißlinge in Deutschland zurück. In Richtung Süden lassen sie sich mehr Zeit, weil es dort länger warm bleibt. Weiter im Norden beginnen sie früher mit dem Verpuppen, denn der Sommer ist dort kürzer. »In Nordschweden kann das schon Ende Juni sein«, sagt Lehmann.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben