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Vorsicht, Denkfalle!: Warum? Darum!

Wenn jemand unbestreitbare Tatsachen ausblendet, ist schnell vom »Pippi-Langstrumpf-Syndrom« die Rede. Doch ist der Vorwurf der Realitätsverweigerung nicht oft selbst eine? Das fragt sich unser Psychologie-Kolumnist.
Ein Kind mit roten Zöpfen lächelt und schaut zur Seite. Auf der Schulter des Kindes sitzt ein kleiner Affe. Der Hintergrund ist unscharf und in warmen Tönen gehalten.
Sie macht sich die Welt, widdewidde wie sie ihr gefällt (Filmszene aus dem ersten Pippi Langstrumpf-Film von 1969 mit Inger Nilsson als Pippi).
Irren tun immer die anderen. Man braucht etwas nur oft genug zu hören, um es zu glauben. Und wer sein Gegenüber imitiert, wirkt sympathisch. Der Psychologe und Bestsellerautor Steve Ayan stellt in seiner Kolumne »Vorsicht, Denkfalle!« die wichtigsten Effekte und Verzerrungen der menschlichen Psyche vor.

Vor einer Weile brachte ich den achtjährigen Daniel nach einem Spielnachmittag mit unserer Tochter zu seinen Eltern zurück. Auf dem Weg erzählte er mir, für kleine Jungs nicht ungewöhnlich, er liiiiebe Fußball. Als ich fragte, ob er einen Lieblingsverein habe, strahlte er: »Na klar, die Glasgow Rangers!«

Ich war verdutzt: »Die Rangers?! Und wieso ausgerechnet die und nicht, na ja, der FC Bayern oder so?« Woraufhin der Kleine empört erwiderte: »Dumme Frage! Was man gut findet oder nicht, dafür gibt es doch keine Gründe – das ist eben so.« Die Rangers und er, das ist wohl Schicksal.

Ich staunte, wie man mit acht Jahren schon so viel Weisheit gelöffelt haben konnte. Denn ich finde, Daniel hatte recht: Warum jemand Vanilleeis über alles liebt und Erdbeereis hasst – oder die Rangers besser findet als jeden anderen Klub der Welt –, das lässt sich nicht objektiv begründen. Ist halt so. Warum? Darum!

Was uns im Alltag allerdings kaum daran hindert, tausend gute Gründe für unsere Vorlieben aufzutun. Denn das lässt sie nur umso wertvoller erscheinen.

Vieles, was wir mies finden, ist sehr subjektiv

Vielleicht, fiel mir ein, gilt dieselbe Grundlosigkeit auch für unsere Abneigungen. Denn ist nicht vieles, was wir absolut mies oder bedrückend finden, zu einem gewissen Grad – mit Verlaub – sehr subjektiv?

Oft macht sich jemand große Sorgen, die er gar nicht hätte, würde er die Sache bloß mal aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Beispiel Stress: Was dem einen als furchteinflößender Aufgabenberg erscheint, ist für den anderen ein »Challenge«-Parcours.

Ja, ich weiß, das klingt furchtbar relativistisch – so, als sei alles bloß eine Frage der Betrachtungsweise. Aber ich glaube, genau das meinte der Stoiker Epiktet, als er vor fast 2000 Jahren feststellte: »Es sind niemals die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern immer nur unsere eigenen Ansichten darüber.«

Die Realität ausblenden wie Pippi Langstrumpf

Um ihre Meinungen oder Bedenken als vollkommen berechtigt und objektiv hinzustellen, sprechen mache vom »Pippi-Langstrumpf-Syndrom«: Daran leidet angeblich, wer ihre Sicht nicht teilt, sondern vielmehr die Realität verweigert.

Ein anerkannter psychologischer Effekt ist das freilich nicht – der populäre Ausdruck, oft mit »PLS« abgekürzt, tut nur so, als handle es sich um ein von Experten anerkanntes Phänomen. Wissenschaftlichkeit zu suggerieren ist übrigens auch ein beliebter Trick, um eine Sichtweise als Fakt zu beglaubigen.

Ich dagegen frage mich: Ist die Idee, die anderen litten an Realitätsverweigerung, nicht selbst eine? Denn sie setzt voraus, dass man selbst genau weiß, wie die Dinge liegen und gesehen werden müssen – was doch ziemlich unrealistisch klingt.

Sicherlich gibt es Dinge, die man nur mit extrem viel Ignoranz leugnen kann: den Holocaust etwa oder den Klimawandel. Doch andererseits ist Pippis berühmtes Motto »Ich mach' mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt« wohl genau das, was wir brauchen, um mit der sogenannten Realität fertigzuwerden.

Des einen Apokalypse ist des anderen Aufbruch. Alles eine Frage der Sichtweise? Vielleicht nicht alles – aber vieles.

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