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Wissenschaftlicher Fortschritt: Würdigt die Fehler

Wir sollten - unabsichtliche - Fehler von Wissenschaftlern würdigen, fordert der Astrophysiker Mario Livio vom Space Telescope Science Institute in Baltimore. Sie öffnen das Tor zu neuen Erkenntnissen und bringen die Forschung voran.
Geistesblitz

1991 verkündeten die Astronomen Andrew Lyne, Matthew Bailes und S.L. Shemar in "Nature" eine bahnbrechende Entdeckung [1]: den ersten Planeten außerhalb unseres Sonnensystems. Zur Überraschung aller umkreiste er keinen Stern wie unsere Sonne, sondern einen Pulsar – einen dichten, sich drehenden Neutronenstern, der bei der Explosion einer Supernova entsteht. Der mutmaßliche Planet verriet sich, weil er das Zeitintervall der Radiowellenblitze des Pulsars veränderte.

Leider mussten Lyne und Bailes ihr Ergebnis wenige Monate später zurückziehen, nachdem ein Fehler in ihren Berechnungen aufgedeckt worden war, wie sie "Nature" im Januar 1992 berichteten [2]: Die Astronomen gaben mutig zu, dass sie die Bewegung der Erde um unsere Sonne nicht adäquat berücksichtigt hatten. Als Lyne seinen Irrtum auf einer Konferenz der American Astronomical Society im gleichen Monat zugab, erhielt er dafür stehende Ovationen. Doch die Geschichte ging noch besser aus.

Sofort nach Lynes Präsentation kündigte der Astronom Aleksander Wolszczan an, dass er und sein Kollege mit der gleichen Technik zwei weitere Planeten aufgespürt hätten, die ebenfalls einen Pulsar umkreisten. Sie stellten sich tatsächlich als die ersten Entdeckungen von Exoplaneten heraus. Wolszczan erzählte mir, dass Lynes Originalveröffentlichung für ihn wie ein Raketensatz fürs Selbstvertrauen gewirkt habe und ihn davon überzeugte, dass die Signale in seinen Daten real seien. Als Lyne seine Ergebnisse zurückzog, hatte Wolszczan genügend Tests mit seinen eigenen Ergebnissen durchgeführt, um sich sicher zu fühlen.

Irrtümer sind ein wesentlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Fortschritts. Forschung ist kein geradliniger Marsch zur Wahrheit, sondern entspricht einem Zickzacklauf, der Versuch und Irrtum einschließt. Fehler unterlaufen nicht nur exklusiv schlampigen oder unerfahrenen Forschern: Selbst die größten Denker wie Einstein oder Darwin machten große Fehler. Wirklich innovative Ideen benötigen den Willen, auch Risiken auf sich zu nehmen und die Tatsache zu akzeptieren, dass Fehler das Tor zum Fortschritt aufstoßen können. In den Forschungsabteilungen der Privatwirtschaft weiß man dies bereits, doch die akademische Welt erkennt nur langsam, wie notwendig Irrtümer sein können.

Nicht so der Chemiker Linus Pauling. Sein früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter Jack Dunitz erinnert sich an eine seiner Vorgaben: "Fehler schaden der Forschung nicht, da es da draußen zahlreiche kluge Leute gibt, die sofort einen Fehler erkennen und ihn korrigieren. Man kann sich nur selbst zum Narren machen – und das schadet niemandem außer deinem Stolz. Sollte es sich dabei aber um eine gute Idee handeln und du veröffentlichst sie nicht, so erleidet die Wissenschaft einen Verlust."

Verzwicktes Problem

Absurde Ideen können wichtige Einblicke ermöglichen: 1867 postulierte beispielsweise der hervorragende Physiker William Thomas – besser bekannt als Lord Kelvin –, dass "Atome in keinster Weise punktartig seien, sondern verknotete Wirbel des Äthers" [3]. Äther galt als eine Art Flüssigkeit, die den Raum durchdringt und Elektrizität und Magnetismus ein Medium verleiht. Angeregt von den Arbeiten Hermann von Helmholtz' im 19. Jahrhundert über Wirbel in Flüssigkeiten, identifizierte Kelvin drei Charakteristika verknoteter Wirbelröhren, die sie als attraktive Modelle für Atome prädestinierten:

  • Wirbel in Flüssigkeiten sind erstaunlich stabil. Für Kelvin spiegelten sie damit die "unveränderlichen kennzeichnenden Eigenschaften" der Atome wider. Und jeder Knoten konnte anhand seines geometrischen Abbilds klassifiziert werden.
  • Die Vielfalt der chemischen Elemente könnte die "unendliche Vielfalt" der Knoten wiedergeben.
  • Und so wie Rauchringe vibrieren, so könnten die Schwingungen der Ätherwirbel atomare Spektrallinien reproduzieren.

Um das Periodensystem zu erklären, musste Kelvin die Knoten anhand ihrer Form klassifizieren und alle ausrangieren, die sich von einer Form zur anderen wandeln ließen. Laut Kelvins Theorie repräsentierte der kreisförmige "Unknoten" das Wasserstoffatom, das dreifach geschleifte "Kleeblatt" den Kohlenstoff. Kelvins Theorie der Wirbelatome ist offensichtlich falsch. Der Äther existiert nicht einmal. Doch diese Fehler schreckten nicht jeden ab: Während die Physiker für längere Zeit das Interesse verloren, griffen Mathematiker die Knoten begierig auf und forschten jahrzehntelang intensiv daran. In den 1980er Jahren verknüpfte sich die Knotentheorie wieder mit der Physik. Der Mathematiker Vaughan Jones entdeckte einen algebraischen Terminus, der einzigartig für jeden Knoten ausfällt. Der Physiker Edward Witten verband dies dann mit der Quantenfeldtheorie – einem Zweig der Physik, der Feldtheorien und Quantenmechanik in Einklang bringen möchte. In der klassischen Physik wird der Weg, den ein Teilchen zwischen Punkt A und Punkt B nimmt, durch die newtonschen Gesetze festgelegt. Im Reich der Quanten muss man alle möglichen Wege zwischen A und B berücksichtigen – inklusive gewundener und verknoteter Möglichkeiten. Nachfolgende Arbeiten verknüpften Knoten, Quantenfeld- und Stringtheorie, die Teilchen als vibrierende Seiten beschreibt und damit auf Kelvins Idee zurückgreift. Und heute werden Knoten sogar in der Biologie und Chemie verwendet, etwa um die Tätigkeit von Enzymen auf der DNA zu beschreiben und zu analysieren.

Ungewöhnliche Behauptungen

Irrtümer lassen sich manchmal nur schwer korrigieren. Experimente sind mittlerweile so komplex und geld- wie zeitaufwändig, dass Wiederholungen praktisch ausgeschlossen sind. Wenn ein Ergebnis von vielen als falsch eingestuft wird, sind nur wenige Forscher motiviert, den Versuch erneut durchzuführen. Dabei kann sich das lohnen. Die sensationelle Behauptung der Geomikrobiologin Felisa Wolfe-Simon und ihrer Kollegen in "Science" [4], dass sie ein Bakterium entdeckt hätten, das Arsen statt Phosphor für seinen Lebenszyklus nutze, zog starke Kritik nach sich. Einige wenige Kritiker überprüften das Experiment, darunter die Mikrobiologin Rosemary Redfield von der University of British Columbia in Vancouver, die darüber bloggte. Ihre Anstrengungen zahlten sich aus: In Wirklichkeit tut das Bakterium sehr viel, um Arsen zu meiden. Redfield und ihre Kollegen wiesen kein Arsen in der DNA des Bakteriums nach. Und der Molekularbiologe Dan Tafwik und sein Team am Weizman Institute in Rehovot identifizierte den Mechanismus, mit dem Proteine dieser und verwandter Bakterien Phosphate und nicht Arsen binden. Obwohl eine Lektion offensichtlich ist – außergewöhnliche Behauptungen benötigen auch außerordentliche Belege –, so hatte die Studie doch auch einigen wissenschaftlichen Wert. Sie regte die Diskussion und Neugier über unterschiedliche Formen des Lebens an.

Im 19. Jahrhundert schrieb der schottische Autor Samuel Smiles: "Wir entdecken oft das Funktionierende, indem wir herausfinden, was nicht funktioniert. Und wahrscheinlich entdeckte derjenige nichts, der nie einen Fehler beging." Sein Zitat sollte nicht als Aufforderung zu schlampiger Wissenschaft verstanden werden, sondern als Ermutigung, um die Ecke zu denken und auch kalkulierte Risiken einzugehen.

Können wissenschaftliche Irrtümer heute noch ihren Platz in der schnelllebigen, unterfinanzierten und veröffentlichungsgetriebenen Forschungslandschaft finden? Ich denke: Ja, sie müssen! Wir sollten gewagten wissenschaftlichen Anträgen eine Chance geben – finanziell und im Evaluierungsprozess. Bis vor einem Jahrzehnt wurde die Bewertungskommission des Hubble-Teleskops – die die Beobachtungszeiten festlegt – dazu ermuntert, ein Zehntel der Zeit Bewerbern einzuräumen, deren Erfolgsaussichten insgesamt gering waren, die aber im Fall der Fälle doch großartige Ergebnisse hätten erzielen können. Eine ähnliche Philosophie könnte auch andernorts einziehen.

Es ist problematisch, dass derartige Kommissionen dazu neigen, riskante Programme eher abzulehnen. Der Wille, einen Konsens zu erzielen, führt am Ende zu Durchschnitt. Derartige Hindernisse ließen sich überwinden, wenn die Entscheidungsgewalt auf nur eine Person überginge. Im Fall von Hubble hat der Leiter ein gewisses Zeitbudget, das er nach eigenem Ermessen verteilen und für das sich jeder bewerben kann. Unter anderem ging daraus das Hubble Deep Field hervor – eines der detailliertesten Bilder des Universums, die jemals gemacht wurden. Heute sollen Teleskope wie Hubble mithelfen, das Ergebnis eines weiteren Irrtums zu überprüfen. Einstein bedauerte seinen Versuch, einen statischen Kosmos mit Hilfe der Antigravitation zu modellieren. 1998 zeigte sich aber über die Beobachtung von Supernovae, dass sich die Ausdehnung des Alls beschleunigt; seitdem gilt es als eine der größten Herausforderungen der Physik, die Natur dieser Rückstoßkraft zu entschlüsseln.

Wir Forscher müssen Irrtümer von Querdenkern begeistert aufnehmen. Die Evaluationsabläufe sollten Originalität also zulassen – auch auf die Gefahr hin, dass dabei Fehlzündungen und Sackgassen auftreten.

Der Artikel erschien unter dem Titel "Don't bristle at blunders" in Nature 497, S. 309-310, 2013.

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