Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die große Youtube-Kontroverse um eine unendliche Summe

Wer sich öfter auf der Videoplattform Youtube herumtreibt, weiß, wie ein Streit dort üblicherweise ausgetragen wird: Falls jemand in seinem Video beispielsweise etwas Falsches sagt, dann veröffentlicht ein anderer Youtuber ein so genanntes React (ein Video als Reaktion darauf). Und manchmal schaukeln sich solche Streitigkeiten auf: Auf das React folgt ein weiteres der angegriffenen Partei – auf das dann vielleicht erneut ein Antwortvideo folgt. So weit nichts Neues. Doch es ist schon etwas Besonderes, wenn Mathematikkanäle derart aufeinander losgehen.
Denn gerade in der Mathe-Bubble ist der Umgang eigentlich ziemlich freundschaftlich. Schließlich verfolgen alle dasselbe Ziel: das oft unbeliebte Fach populärer zu machen. Und auch inhaltlich bietet die Mathematik normalerweise wenig Angriffsfläche. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften lässt sich eine mathematische Aussage entweder belegen oder nicht – ohne viel Interpretationsspielraum.
Tatsächlich lieferten sich aber ausgerechnet zwei der weltweit größten Mathematikkanäle einen Youtube-Showdown. Angefangen hat das Ganze mit einem im Jahr 2014 veröffentlichten, siebenminütigen Video des Kanals Numberphile, in dem die Physiker Tony Padilla und Edmund Copeland etwas Unglaubliches erklären: Summiert man alle natürlichen Zahlen auf, also 1 + 2 + 3 + 4 + …, erhält man als Ergebnis −1⁄12.
Ja, Sie haben richtig gelesen: Die unendlich lange Addition positiver ganzer Zahlen soll eine negative Bruchzahl ergeben. Das erregte medial einige Aufmerksamkeit, so berichtete die »New York Times« kurz darauf über diesen seltsamen Zusammenhang. Daraufhin überschwemmten interessierte Laien die Postfächer von Mathematikern mit Fragen: Kann dieses Ergebnis wirklich stimmen? Was steckt dahinter? Ist alles, was je über Mathematik gelehrt wurde, falsch?
Irgendwann hielt es der Mathematiker Burkard Polster nach eigenen Angaben nicht mehr aus und veröffentlichte im Januar 2018 – also vier Jahre nach dem Numberphile-Video – ein 40-minütiges React mit der klaren Aussage: alles totaler Quatsch. Tatsächlich ziert die Videovorschau ein Bild mit der großen Aufschrift »Debunked«, was so viel bedeutet wie »entlarvt«. Haben das Numberphile-Team und die beteiligten Fachleute die Öffentlichkeit an der Nase herumgeführt? Handelte es sich um einen Scherz, den niemand wirklich auflösen wollte?
Ganz so einfach ist es nicht. Die Summe aller natürlichen Zahlen (1 + 2 + 3 + 4 + …) lässt sich wirklich mit der negativen Bruchzahl −1⁄12 in Verbindung bringen. Ob man hierbei aber von Gleichheit sprechen sollte, sorgt in der Fachwelt immer wieder für Debatten. Andererseits greifen Physiker auf diese Berechnung zurück, um Phänomene aus der Quantenwelt zu beschreiben – und deren Ergebnisse stimmen mit den experimentellen Messungen überein. In der Natur scheint also 1 + 2 + 3 + 4 + … = −1⁄12 realisiert.
Der Hauptkritikpunkt von Polster bezieht sich jedoch gar nicht auf das Gleichheitszeichen an sich. Vielmehr scheint er sich über die Erklärungen im kurzen Numberphile-Video zu ärgern, die zu dem kontraintuitiven Ergebnis führen. Hat er mit seiner harschen Kritik Recht? Ein 2014 veröffentlichtes Numberphile-Video mit Zusatzinhalten und ein Forschungsergebnis aus dem Jahr 2024 legen nahe, dass er vielleicht vorschnell geurteilt hat.
Der Weg ist das Ziel
Numberphile war einer der ersten erfolgreichen Youtube-Kanäle, der sich um Mathematik dreht. Das Konzept ist seit der Entstehung im Jahr 2011 stets gleich geblieben: Der Journalist Brady Haran sucht Fachleute auf und lässt sich mathematische Konzepte erklären – meist notieren sie diese handschriftlich auf Kraftpapier. Die Videos sind häufig recht kurz und bieten einen niedrigschwelligen Zugang zu dem sonst als kompliziert geltenden Fach. So auch der siebenminütige Beitrag zur Summe aller natürlichen Zahlen:
Um das unglaubliche Ergebnis: 1 + 2 + 3 + 4 + … = −1⁄12 zu erklären, greifen die beiden Physiker im betreffenden Video auf drei unendlich lange Summen zurück:
Selbst ich – die es ja von Berufs wegen gewohnt ist, komplexe Inhalte stark zu vereinfachen – war beim Anschauen des Videos erstaunt. Denn jede Person, die auch nur ein Semester Mathematik, Physik, Informatik oder ein anderes MINT-Fach studiert hat, sollte auf den ersten Blick sehen, dass diese drei Summen nicht konvergieren. Das heißt, ihr Wert lässt sich nicht eindeutig erfassen. (Für Interessierte: Der ersten Summe habe ich in der Vergangenheit einen eigenen Artikel gewidmet.)
Im Numberphile-Video wird gesagt: Ja, die Summen sind kompliziert, aber man kann ihnen trotzdem einen Wert zuordnen. S1 zum Beispiel schwankt stets zwischen 0 und 1 (je nachdem, ob man die Summe bei einem geraden oder ungeraden Summenglied abbricht), und deshalb sei das Ergebnis ½ – also der Mittelwert aus beiden Zahlen. Und tatsächlich gibt es mathematische Argumente für dieses Ergebnis. Hierfür werden allerdings kompliziertere Konzepte wie Supersummen und so weiter eingeführt. Aber ich will nicht zu kritisch sein und sage: Okay, bis hierhin gekauft.
Doch dann wird es wild: Padilla und Copeland spielen mit den Summen herum, addieren und subtrahieren sie voneinander; ordnen dabei die Summanden um und erhalten dann schließlich das bereits erwähnte Ergebnis: Die Summe S ist gleich −1⁄12.
Das Problem: Wenn man die Summanden von unendlich langen Summen, wie sie oben stehen, geschickt umordnet, dann lässt sich jedes beliebige Ergebnis erzielen. Diese achtlos anmutende Herumspielerei liefert zwar das richtige Resultat, aber die Physiker hätten auch jede andere Zahl hervorbringen können. Lässt sich wirklich so lax mit unendlichen Summen hantieren?
Die kritische Antwort
Nein, sagt Burkard Polster. Der deutsche Mathematiker lehrt an der Monash University in Melbourne und betreibt seit 2015 einen erfolgreichen Youtube-Kanal mit dem Namen Mathologer. In seinen rund halbstündigen Videos geht er meist recht detailliert und fachlich präzise auf die vorgestellten Konzepte ein – aber nicht ohne Witz und Ironie. Besonders prägnant sind dabei seine nerdigen Motto-Shirts, die stets zum vorgestellten Inhalt passen. Das lässt er auch nicht bei seinem React auf das Numberphile-Video außer Acht.
Dieses beginnt so:
Ganz schön viel Drama für ein Mathe-Video, wenn Sie mich fragen. Aber durchaus unterhaltsam. Polster zerpflückt jeden einzelnen Schritt, den Padilla und Copeland gemacht haben, und erklärt, wie es richtig wäre. Er hat dabei zwei Hauptkritikpunkte: Erstens sei nicht richtig, von Gleichheit zu sprechen. Zwar lasse sich 1 + 2 + 3 + 4 + … mit −1⁄12 in Verbindung bringen, aber es sei keine Identität.
Und zweitens sei problematisch (wie bereits erklärt), dass die Summen nicht konvergieren und daher die einzelnen Rechenschritte nicht so durchgeführt werden dürfen, wie die beiden Physiker es im Video vormachen. Die richtige Herangehensweise besteht darin, so Polster, die so genannte Zetafunktion ζ heranzuziehen – eine Funktion, die in der Zahlentheorie eine große Rolle spielt.
\[ \zeta(s) = \sum_{n=1}\infty \frac{1}{n^s} = 1 + \frac{1}{2^s} + \frac{1}{3^s} + \frac{1}{4^s} + \frac{1}{5^s} +…\]Setzt man für s = –1 ein, dann entspricht die Zetafunktion der Summe aller natürlichen Zahlen. Um den Zusammenhang zu −1⁄12 richtig zu begründen, geht Polster auf komplizierte Konzepte wie komplexe Zahlen und analytische Fortsetzungen ein. Es ist nicht ganz so einfach wie im Numberphile-Video, aber mit etwas Geduld lässt sich auch seinen Erklärungen folgen. Und man wird feststellen: Es gehört ein bisschen mehr dazu, die unfassbare Verbindung zwischen 1 + 2 + 3 + 4 + … und −1⁄12 zu beweisen, als einfach ein paar Summen achtlos zu addieren.
Alles gesagt, nur nicht an der richtigen Stelle?
Das ist natürlich auch den beiden Physikern bewusst, die Brady Haran in seinem Numberphile-Video interviewt hat. Deshalb teasern sie im Video an, dass es Bonusmaterial gibt – ein 20-minütiges Video –, in dem sie etwas ausführlicher auf das Thema eingehen.
Darin führen Copeland und Padilla die Zetafunktion ein und sprechen ebenfalls von komplexen Zahlen und analytischer Fortsetzung. Sie erwähnen also genau das, was Polster in seinem Video aufführt. Damit scheint der zweite Kritikpunkt des deutschen Mathematikers entkräftet.
Entsprechend angefressen muss Brady Haran gewesen sein, wie sich aus einem 2015 erschienenen Blogbeitrag herauslesen lässt. »Numberphile ist kein Mathematiklehrbuch – in einem kurzen Video für eine breite Masse sollte man daher nicht den Detailreichtum und die Hintergrunderklärungen erwarten, die sonst in einer mehrere 100 Seiten langen Facharbeit aufgeführt sind«, schreibt er.
Und auch Padilla machte seinem Ärger in einem Kommentarfeld unter dem Mathologer-Video Luft:
In den folgenden Jahren erschienen auf Numberphile immer wieder Videos zur faszinierenden Zahl −1⁄12, ohne jedoch direkten Bezug auf den vorangegangenen Streit zu nehmen. Im Fanshop wurde es sogar möglich, T-Shirts und Tassen mit einer Zielscheibe zu kaufen, auf der −1⁄12 aufgedruckt ist.
War im Numberphile-Video doch alles korrekt?
Und dann, im Jahr 2024, sechs Jahre nach Polsters Angriff, meldet sich Padilla zurück. Auf Numberphile rollt er das Thema erneut auf und widmet sich dem ersten Kritikpunkt Polsters – dieses Mal mit einer Facharbeit im Gepäck, die er kurz darauf zu dem Thema veröffentlicht hat. Darin begründet er, dass die unendliche lange Summe aus natürlichen Zahlen exakt gleich der Zahl −1⁄12 ist. Dafür greift er auf eine Methode zurück, die der renommierte Mathematiker Terence Tao 2013 entwickelt hat.
Die Argumentation verläuft folgendermaßen: Die Summe 1 + 2 + 3 + 4 + … lässt sich exakt auswerten, wenn man nur endlich viele Summenglieder betrachtet. In diesem Fall ist 1 + 2 + 3 + 4 + … + N = N(N+1)⁄2. Und wenn man N immer größer wählt, dann wird auch der Wert der Summe immer größer. So weit nichts Neues.
Tao aber argumentierte, dass dieses plötzliche Abbrechen nach einem bestimmten Summanden N problematisch sein könnte – insbesondere, wenn man dann daraus schließen möchte, welchen Wert die Summe in der Unendlichkeit annimmt. Geht man etwas »sanfter« vor – lässt also die auf N folgenden Summanden abflachen, anstatt sie direkt auf null zu setzen –, dann taucht plötzlich die Zahl −1⁄12 auf. Allerdings nicht allein. Wie Tao zeigt, würde die Summe immer noch mit wachsendem N ebenfalls ansteigen. Sprich: Man erhält für unendlich viele Summanden den Wert unendlich.
Aber Padilla hat das Ergebnis von Tao genauer untersucht. Und er hat festgestellt, dass abhängig von der Art und Weise, wie man die Summanden abflachen lässt, die Unendlichkeit im Endergebnis verschwindet. Tatsächlich fand er unendlich viele Fälle vor, bei denen die unendlich lange Summe von 1 + 2 + 3 + 4 + … auf das Ergebnis −1⁄12 führt – und das ganz ohne Trickserei, wie er erklärt. Daher sei es aus mathematischer Sicht völlig korrekt zu behaupten, dass 1 + 2 + 3 + 4 + … = −1⁄12 ist.
Bislang hat Polster noch nicht darauf geantwortet. Ich glaube aber ehrlich gesagt nicht, dass der Streit damit endgültig beigelegt ist. Mit der Zeit wird sich zeigen, ob die Fachwelt die Argumentation von Padilla akzeptiert. Bis dahin rechnen Physikerinnen und Physiker jedoch weiterhin mit dem kontroversen Ergebnis – und die experimentellen Messungen scheinen sie zu bestätigen. Ganz verkehrt ist die kontraintuitive Formel 1 + 2 + 3 + 4 + … = −1⁄12 also offenbar nicht.
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