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Zombie-Publikationen: Wie befreit man die Wissenschaft von zurückgezogenen Studien?

Warum sind Studien, deren Ergebnisse grundsätzlich angezweifelt werden, weiterhin in der Welt? Wie ließe sich die Zeit zwischen der Entdeckung von »Fake Science« und ihrer Entfernung aus den Datenbanken der Wissenschaft verkürzen?
Eine gelbe Aktenmappe, die an der oberen rechten Ecke brennt, mit Flammen und aufsteigendem Rauch. Die Mappe enthält Papiere, die ebenfalls Feuer gefangen haben. Der Hintergrund der Illustration ist hellblau.
Wenn zurückgezogene Studien weiter zugänglich bleiben und zitiert werden, kann nicht nur der Wissenschaft Schaden entstehen.

In der Wissenschaft geht man davon aus, dass das Zurückziehen einer Veröffentlichung das Ende ihrer Wirkungsgeschichte markiert. Allerdings ist es häufig so, dass die entsprechenden Artikel noch lange nach ihrer offiziellen Rücknahme zitiert werden – und so Ideen lebendig bleiben, die längst angezweifelt werden. Solche Artikel nennen wir Zombie-Paper.

Ihr Stehvermögen verursacht erhebliche Probleme: Nicht nur verbreiten sie falsche Informationen weiter, sie bergen obendrein das Risiko, künftige Forschungen in die Irre zu führen, Metaanalysen zu verfälschen oder auch die Politik oder die klinische Praxis fehlzuleiten. Warum also halten sich die Zombies so lange, und wie können wir ihr Verschwinden beschleunigen?

Ein hartnäckiges, Besorgnis erregendes Phänomen

Um das Ausmaß des Phänomens zu fassen, haben wir kürzlich eine Studie durchgeführt, bei der wir mit Hilfe der Datenbank Retraction Watch 25 480 zurückgezogene Artikel analysiert haben, die zwischen 1923 und 2023 erschienen sind und ein sehr breites Fächerspektrum abdecken. Die Rücknahme (englisch: retraction) kann dabei von den Herausgebern oder Chefredakteuren einer Fachzeitschrift ausgehen, von den Autoren des Artikels selbst oder von der Institution, der sie angehören. Dies geschieht, wenn nach der Veröffentlichung des Artikels noch wesentliche Probleme – wie Fehler in den Daten, Betrug, Plagiate und so weiter – festgestellt werden.

Im Schnitt vergehen 1045 Tage, also beinahe drei Jahre, zwischen der Veröffentlichung und der Rücknahme eines Artikels. In Extremfällen kann dieser Zeitraum noch weit größer ausfallen und mehrere Jahrzehnte umfassen.

Bei schweren Vergehen wie Fälschungen oder erfundenen Daten, die oft schwer zu überprüfen sind, verlängert sich die Spanne bis zur Retraction erheblich. Auch geografische Unterschiede machen sich bemerkbar: In westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern werden Artikel tendenziell schneller zurückgezogen als in Asien, Südamerika oder Osteuropa, was auf unterschiedliche redaktionelle und institutionelle Praktiken schließen lässt.

Unsere Ergebnisse deuten zudem darauf hin, dass Fachzeitschriften mit Subskriptionsmodell problematische Artikel in der Regel schneller zurückziehen als Open-Access-Journale. Dies liegt wahrscheinlich an strengeren und besser strukturierten redaktionellen Prozessen und Qualitätskontrollen. So genannte Raubjournale (illegale oder betrügerische Zeitschriften, die Artikel bar jeder Qualitätskontrolle veröffentlichen) ziehen Beiträge mitunter ebenfalls zügig zurück – allerdings nicht aus ehrlicher Sorge um die Integrität der Wissenschaft, sondern unter dem Druck von Aufsichtsbehörden oder der Fach-Community, die ihre Praktiken anprangern, oder um ihre ohnehin schon angeschlagene Glaubwürdigkeit zu retten.

Ein Evaluationsmodell für die Dynamik von Rücknahmen

Um die Dynamik des Verschwindens von Zombie-Papern besser zu verstehen, haben wir ein theoretisches Modell mit Namen »Zombie Population Decay Dynamics« (ZPDD, auf Deutsch etwa »Rückgangsdynamik von Zombie-Publikationen«) entwickelt. Dieser von Modellen aus der Ökologie inspirierte Ansatz ermöglicht es, die zeitliche Entwicklung der Populationsgröße zurückgezogener Artikel zu simulieren und zu bewerten, welche redaktionellen Strategien ihr Verschwinden aus dem (Fach-)Diskurs beschleunigen könnten. Ein entscheidender Parameter des Modells ist die »Restkapazität«, die dem Bruchteil (von schätzungsweise rund fünf Prozent) derjenigen Zombie-Publikationen entspricht, die trotz aller Eliminierungsversuche weiterhin zirkulieren. Diese Publikationen werden also dauerhaft zitiert, unabhängig davon, ob sie klar als zurückgezogen gekennzeichnet sind oder schlicht durch die redaktionellen Kontrollmechanismen hindurchrutschten.

Empfehlung der Redaktion

Scobel: »Wissenschaft in der Vertrauenskrise«

In seiner letzten »Scobel«-Sendung diskutiert der Publizist Gert Scobel am 12.06.2025 mit Alena Buyx, Bernhard Sabel und Carsten Könneker über Qualitätsprobleme des wissenschaftlichen Publikationswesens, gesellschaftliche Anfeindung von Forschung und die Bedeutung des Wissenschaftsjournalismus.
12.06.2025, 21:00–22:00 auf 3sat

Wir haben drei redaktionelle Strategien untersucht: Datentransparenz (die verpflichtende Übermittlung von Rohdatensätzen), Reproduzierbarkeit (Vorregistrierung von Studienprotokollen, Förderung von Replikationsstudien) sowie die Verbesserung von Tools zur Plagiatserkennung. Die Ergebnisse zeigen, dass die Datentransparenz – das heißt die Übermittlung von Datensätzen und Codes durch die Forscher, sobald sie ihre Artikel einreichen – die wirksamste Maßnahme darstellt. Sie ermöglicht es, Fehler oder Betrug früher zu erkennen und fragwürdige Artikel schneller zurückzuziehen. Auch die anderen Strategien erhöhen die Sorgfalt im redaktionellen Prozess, sind jedoch weniger wirksam, wenn sie einzeln angewendet werden.

Unterschiede nach Fächern und Regionen

Je nach Fachdisziplin scheinen die redaktionellen Maßnahmen unterschiedlich stark zu wirken. In den angewandten und quantitativen Wissenschaften, in denen die Forschung auf empirischen Daten basiert, führen Transparenzrichtlinien vergleichsweise schnell zu Ergebnissen: Innerhalb von etwa 1200 Tagen lässt sich hier die Hälfte aller Zombie-Paper eliminieren. In den Geistes- und Sozialwissenschaften, die in der Regel eher qualitative Ansätze verwenden, dauert es länger; hier benötigt man für die gleiche Reduktion oft mehr als 2000 Tage. Empirische Ergebnisse lassen sich nun einmal leichter überprüfen als theoretische Überlegungen oder Literaturanalysen – was das Aufdecken von Fehlern in manchen Fachbereichen aufwändiger macht.

Die deutlichen regionalen Unterschiede, die wir beobachten – mit schnelleren Rücknahmen in Westeuropa und Nordamerika als in Südamerika oder Asien, zurückzuführen auf höhere Standards für gute wissenschaftliche Praxis – zeigen, dass es redaktioneller Richtlinien bedarf, die an lokale Kontexte angepasst sind und die verfügbaren Ressourcen und Infrastrukturen berücksichtigen.

Wissenschaftliche Integrität stärken – mit welchen Prioritäten?

Unsere Analysen zeigen, dass keine Maßnahme für sich allein das Problem der Zombie-Publikationen löst. Um Fortschritte zu erzielen, braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, der mehrere Elemente vereint: Datentransparenz, Reproduzierbarkeit sowie die stetige Verbesserung von Werkzeugen zur Aufdeckung von Betrug und Plagiaten. In diesem Zusammenhang sollte die Einrichtung von Open-Source-Plattformen für den Austausch wissenschaftlicher Daten gefördert werden, die den freien und dauerhaften Zugang zu sämtlichen Informationen gewährleisten, die zur Überprüfung von Forschungsarbeiten nötig sind.

Ebenso wäre es im Hinblick auf die Reproduzierbarkeit wünschenswert, (i) die Studienautoren zur Vorabregistrierung ihrer Versuchsprotokolle vor Beginn der Experimente zu verpflichten, um nachträgliche Manipulationen der Ergebnisse zu verhindern, und (ii) die Veröffentlichung von Replikationsstudien zu fördern und aufzuwerten. Diese helfen, mögliche methodische Fehler oder Verzerrungen zu erkennen und die Verbreitung fehlerhafter Ergebnisse zu verhindern. Schließlich sollten als Ergänzung zu den Plagiatserkennungstools Fachpanels für wissenschaftliche Zeitschriften eingerichtet werden, um die Untersuchung von Betrugsfällen zu erleichtern, indem diese für eine strenge, unabhängige Verfolgung fragwürdiger wissenschaftlicher Praktiken sorgen.

Darüber hinaus müssen Retractions deutlicher erkennbar sein. Jeder zurückgenommene Artikel sollte auf sämtlichen wissenschaftlichen Plattformen klar gekennzeichnet sein, um seinen künftigen Einfluss, besonders durch weitere Zitate, zu begrenzen.

Der Kampf gegen Zombie-Publikationen stellt eine große Herausforderung dar. Verlage, Forschende und Institutionen müssen abgestimmt zusammenwirken, um die Integrität des wissenschaftlichen Korpus und die Robustheit des erzeugten Wissens zu sichern.

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