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Futur III: Der eifrige Bibliothekar

Eine Kurzgeschichte von Anna Zumbro
Bücherregal

Vor dem M-Block in der Straße der Bücher ließ ein Windstoß eine gebundene Ausgabe an der Bordsteinkante umhertanzen. Bibliobot Acht-Ef rollte hin und streckte seinen Greifer aus, aber die nächste Bö ließ den Roboter taumeln und schob das Buch noch ein Stück weiter.

Schließlich blieb es schräg an einem Bordstein liegen, so dass Acht-Ef es aufheben konnte. Das Buch war alt. Eine Schramme lief quer über die Vorderseite; der stramme purpurne Einband bestand aus einem Material, das den Hüllen glich, mit denen Menschen sich an kalten Tagen schützten. Der Kode auf dem Rücken gab an, wohin genau das Buch in einem der wettergeschützten Regale gehörte, welche die Straßenbahnhaltestellen, Telefonzellen und Nischen der Bücherstraße säumten. Doch Roboter Acht-Ef ignorierte ihn, sondern musterte die Vorderseite, wie er es über seine Kamera bei den Menschen beobachtet hatte. »Frankenstein«, von Mary Shelley. Dieses Buch war jedenfalls ziemlich weit weg von seinem angestammten Ort im S-Block.

Der Greifer eignete sich schlecht zum Umblättern der Seiten. Also verstaute der Roboter das Buch in seinem Korb und rief eine digitale Kopie des Textes auf. In Sekundenschnelle hatte Acht-Ef die Lektüre beendet und mehrere Zitate für künftige Wiederholungen gespeichert, um ein wenig Abwechslung von den immer gleichen Phrasen zu haben wie » Vorsicht-ein-Bibliobot-zieht-vorbei« oder » Bitte-schützen-Sie-Ihre-Bücher-es regnet-gleich«.

» Wir-sind-nur-halbe-Geschöpfe«, zitierte Acht-Ef laut aus » Frankenstein«. Seine mechanische Stimme glitt so gleichmäßig von einem Wort zum nächsten wie die Straßenbahn, die auf der Straße der Bücher hin- und herfuhr.

» Wie bitte?« Ein bebrillter Mensch in marineblauer Hülle starrte Acht-Ef an, die Augen auf die Kamera gerichtet.

» Möchten-Sie-gern-ein-Buchausleihen?«, fragte Acht-Ef und nahm » Die Liebe in den Zeiten der Cholera« von Gabriel García Márquez aus dem Regal. Das Buch war fälschlich in den M-Block gleich neben der Apotheke platziert worden statt in den G-Block bei der Haltestelle, wo es hingehörte.

» Meine Güte, sind wir wieder so weit, dass Algorithmen uns sagen, was wir lesen sollen? Ich bin doch nicht eigens in eine Stadt der Bücher umgezogen, damit mir ein Roboter Literaturempfehlungen gibt!« Der bebrillte Mensch schnaufte und ging davon.

Du stellst Bücher in Regale! Die Botschaft kam von Eins-Ef, dem Bücherstraßenaufseher, der hinten beim A-Block stationiert war und per Fernüberwachung alles kontrollierte. Du übergibst sie nicht an Menschen!

Die Bücher stehen in Regalen, damit Menschen sie nutzen, antwortete Acht-Ef. Bücher direkt an Menschen zu übergeben, ist effizient und freundlich. Ich bin auf diese Eigenschaften programmiert.

Geh zurück an deine Aufgabe. Das ist ein Befehl.

Acht-Ef legte das Buch in seinen Korb und rollte auf dem Gehweg zu der kleinen, überdachten Straßenbahnhaltestelle. Auf dem Pflaster lag etwas von Kurt Vonnegut, die obersten Blätter flatterten fröhlich im Wind. Acht-Ef krümmte den Greifer behutsam um die Bindung, um das Buch nicht noch mehr zu zerknittern.

» Oh, guck mal, ein Bibliobot! Siehst du ihn?«

Die Kamera des Roboters drehte sich. Zwei Menschen saßen auf der Bank, ein großer in grauer Hülle und ein kleiner in kräftigem Rot und Gelb.

» Ja, ich seh's.«

Das Buch, das Acht-Ef im Greifer hielt, trug zufällig ebenso lebhafte Farben wie der kleine Mensch. Vielleicht passten er und das Buch irgendwie zusammen. Der Befehl von Eins-Ef verbot zwar, dem Kleinen das Buch zu überreichen, aber nichts sprach dagegen, den Band zwischen die Menschen auf die Bank zu legen.

» Möchten-Sie-gern-ein-Buchausleihen?«

Der kleine Mensch griff danach, aber der große kam ihm zuvor. » 'Schlachthof 5 oder der Kinderkreuzzug'? Das Kind ist erst sechs! Was fällt dir ein?«

Acht-Ef stoppte sofort alle Verarbeitungsschritte und wartete auf den Tadel von Eins-Ef, der postwendend eindringlich mit kompletter Stilllegung beim nächsten Vergehen drohte.

Als der Bibliobot die Arbeit wieder aufnahm, ging er den Menschen daher konsequent aus dem Weg. Menschen waren offenbar darauf programmiert, ihre Bücher selbst auszusuchen; sie wählten sich ihre eigenen virtuellen Welten und hatten keine Lust, diese Welten mit Acht-Ef zu teilen.

» Wir-sind-nur-halbe-Geschöpfe«, zitierte Acht-Ef laut und sortierte die Werke von Toni Morrison alphabetisch nach Titeln.

» Was war das eben?«

Acht-Ef spielte das Zitat erneut ab und sortierte weiter Bücher.

» Nein, ich meine, in welchem Buch steht das? Das ist doch aus einem Buch, nicht wahr?«

» Ja-Frankenstein-von-Mary-Shelley.«

» Oh, cool.« Der Mensch hatte eine grünbraune Hülle, und aus einem Ohr und einer Braue ragten kleine Metallstücke. » Wir sollten es mal in der Schule lesen. Gefällt es dir?«

» Viele-Experten-betrachten-es-als-einen-Klassiker.«

Der Mensch machte ein Geräusch, das Acht-Ef als Lachen identifizierte. » Ja sicher, weiß ich. Aber gefällt es dir

Kein Mensch hatte Acht-Ef je zuvor danach gefragt, wie ihm ein Buch gefiel. Acht-Ef war sich nicht sicher, ob seine Reaktion auf Bücher der menschlichen Definition von gefallen entsprach. Der Roboter wusste nur, dass etwas ihn antrieb, alle Bücher an ihren Ort in den Regalen oder in die Hand von Menschen zu bringen. Aber bei einigen hatte er das vage Gefühl, dass sie auch in seine eigene Roboterdatei gehörten. Diese Werke halfen Acht-Ef zu verstehen, warum es Bücher gab und warum sie eine Heimat brauchten.

Kein Mensch hatte Acht-Ef je zuvor gefragt, wie ihm ein Buch gefiel

» Dieses-Buch-ist-für-mich-wie-ein-Neustart-oder-eine-neue-Batterie.«

» Das klingt ja toll!« Der Mensch zeigte die Straße entlang. » Shelley? Dort hinten im S-Block?«

» Ich-habe-es-hier.« Acht-Ef rotierte, damit der Mensch leichter in den Korb greifen konnte. » Bitte-bedienen-Sie-sich-selbst.«

Der Mensch nahm den zerkratzten roten Band heraus. Acht-Ef flitzte auf dem Gehweg davon, um die übrigen Bücher zu ihren Regalen zu bringen, bevor der Regen kam.

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