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Futur III: Der ewige Sturm

Eine isländische Exklave überdauert das Ende der Zivilisation Eine Kurzgeschichte von Thomas Grüter
Sturm an der Küste

Ich war 14, als ich meinen Bruder an die Dämonen verlor. Zwei Jahre jünger als ich, war Jamie knapp größer. Und, was ich damals unverzeihlich fand, sehr viel mutiger. Ohne zu zögern, lief er auf einer schmalen Planke über einen schäumenden Wildbach oder erklomm eine glitschige Felswand. So befanden wir ihn eines Tages für würdig, mit uns die verbotene lange Treppe zum Hochland hinaufzuklettern, ins Reich der heulenden Sturmdämonen.

In Hoddmímis Holt, der tiefen Schlucht, die unsere Heimat war, hörten wir sie dort oben brüllen, kreischen und toben. Sie rollten Steine herum und warfen sie voller Wut zu uns herunter. Sie verknoteten den Regen zu bizarren, weißen Tüchern, bevor sie ihn uns ins Gesicht bliesen. Tief unten in der Talsohle hatten sie keine Macht. Nur manchmal, wenn der Sturm von seinem üblichen Südwest auf Südost drehte, fegten sie das Holt entlang. Dann versteckten wir uns in unseren künstlichen Höhlen und warteten tagelang, bis sie wieder abzogen.

An jenem schrecklichen Tag im Sommer des Jahres 19 hetzten wir die 845 Stufen hinauf, in Richtung Hochland. Die Treppe ächzte und schwang in ihren Halterungen. Obwohl wir nicht wirklich glaubten, sie könne sich losreißen, liefen wir doch, so schnell wir konnten, zuerst auf leichten Füßen, dann mit zunehmend schweren Beinen, keuchend und verschwitzt.

Am oberen Ende der Treppe schloss sich der Felsentunnel an, der mit 42 in den Stein gehauenen Stufen auf die Ebene führte. Bevor wir in ihn hineingingen, hielten wir an, schwer atmend, und sahen in die Schlucht hinunter. Unter dem grauen Himmel strahlten die hell erleuchteten Treibhäuser wie grüne Edelsteine. Der Fluss tobte und schäumte in seinem geschwungenen Betonbett. Die grauen Doppeltore der riesigen, in die felsige Wand gesprengten Fahrzeughalle erschienen uns winzig.

Nach einer kleinen Atempause wandten wir uns um und betraten den Tunnel. Kurz vor dem Eingang hing immer noch die große Bronzetafel mit dem Gründungstext: »Internationale Forschungsgruppe in Hoddmímis Holt, Island. Gegründet im Jahr 0 der zwölf Familien, im Jahr 2085 CE, im Jahr 3 des Ewigen Sturms, im Jahr der Evakuierung der Insel Island. Wir danken dem isländischen Volk und der internationalen Gemeinschaft für ihre unschätzbare Hilfe beim Ausbau unseres Tals.« Darunter hatten die zwölf Familien stolz ihre Namen gesetzt und an den unteren Rand der Tafel den rätselhaften Satz eingraviert: »Der Große Rote Fleck ist auf die Erde gekommen.«

Je höher wir stiegen, desto lauter wurde das Tosen und Pfeifen. An der Tunnelmündung brüllte der Sturm so gewaltig, dass er uns jedes Wort vom Mund riss und wir uns nur mit Handzeichen verständigen konnten. Es brauchte Mut, den Tunnel zu verlassen.

An seinem Ausgang standen nur noch die Reste der aufgegebenen Wetterstation, von einer übermannshohen Mauer vor dem Sturm geschützt. Irgendwann hatten die Dämonen die Messgeräte umgeworfen, das Dach der Gerätehütte abgerissen, die Wände zerschlagen und die Mauer bis auf Brusthöhe abgetragen. Für die Rasmussenzwillinge und mich war das Gelände ein fantastischer Spielplatz voller Abenteuer und Gefahr.

Obwohl der Sturm innerhalb der Ruinen der Umfassungsmauer nicht seine volle Kraft entfaltete, hätte er uns sofort umgeworfen. Also krochen wir, wie Krabben an den Boden gedrückt, dorthin wo Sand und Wind eine schmale, zwei Handspannen über den Boden reichende Lücke in die Mauer gefräst hatte.

Dahinter lauerte eine graubraune, geröllübersäte Ebene. Über sie jagten Schatten und Schleier: die Sturmdämonen. Jetzt galt es, einen schnellen Blick in ihr grausiges Reich zu erhaschen und dann zurückzurobben, die Augen zugekniffen wegen der Sandkörner, die wie tausend spitze Nadeln in unser Gesicht peitschten.

Wir hatten diese Mutprobe im letzten Jahr abgelegt, aber Jamie war zum ersten Mal hier. Wir sahen gespannt zu, wie er hinauskroch. An der Mauerlücke angekommen, wartete er eine Atempause des Sturms ab und richtete sich tollkühn auf. Einen Moment stand er da, stolz und gerade, mit ausgebreiteten Armen, die Finger in die Steine am Rand der Mauerlücke gekrallt. Triumphierend sah er sich zu uns um. Dann packte ihn eine Böe und riss ihn davon.

Voller Schrecken kroch ich hinaus und spähte durch die Mauerlücke. Jamie lag 20 Meter entfernt verkrümmt und regungslos am Boden – so unerreichbar wie auf dem Mond. Dann frischte der Sturm noch einmal auf, die Dämonen ergriffen ihn erneut, warfen ihn herum und zogen ihn immer weiter in ihr Reich. Unser Spiel war vorbei, wir rannten hinunter, gefährlich schnell, und holten die Erwachsenen, doch auch sie konnten nicht helfen. Ich bettelte und weinte, aber jeder Rettungsversuch hätte nur weitere Menschen in Gefahr gebracht.

Niemand bestrafte uns, und das war das Schlimmste. Wir wollten Prügel beziehen, als Absolution für unsere Sünden, aber es geschah nichts. Der Rat ließ lediglich die Treppe sperren.

Meine Freundschaft mit den Rasmussenzwillingen zerbrach, wir unternahmen nichts mehr zusammen und sprachen lange Zeit nur noch das Nötigste. Aber in unserer kleinen isolierten Gemeinschaft waren wir letztlich aufeinander angewiesen. Im Jahr meiner Geburt hatten die Satellitennetze aufgehört, unsere Signale zu beantworten, so dass wir vom Rest der Welt abgeschnitten waren. Mich hatte das nie gestört, ich kannte es nicht anders. Mir und den 20 anderen hier geborenen Kindern, den Holtern, erschienen die alten Filme und Bilder von windstillen Orten mit endlos vielen Menschen ganz und gar märchenhaft. Unsere Wirklichkeit war der ewige Sturm, und er war immer schon da gewesen.

»Blödsinn!«, erwiderte Eiður Grímsson, unser Lehrer, wenn einer von uns diesen Gedanken aussprach. Dann erzählte er uns, dass die Menschen die Erde immer mehr aufgeheizt hatten, bis sich die Luftströmungen verkeilten. Und wie schließlich ein riesiger Sturmwirbel zwischen Island und Grönland stecken geblieben war. Er wuchs stetig an und sprengte bald die Skala der Windstärken. Und er blieb, über Monate und Jahre. Nach zwei Jahren beschloss das Althing die Räumung Islands.

»Heldenhaft, wie wir waren«, fuhr Grímsson mit übertriebenem Pathos fort, »blieben wir zurück, um den ewigen Sturm zu studieren. Und jetzt sitzen wir hier fest.« Wir Holter empfanden das nicht so. Uns erschien die Außenwelt so mythisch wie Asgard oder der Himmel. Und bald sollte sie endgültig verlöschen.

Es begann 18 Monate nach Jamies Tod. Mein Vater und ich überprüften die Generatoren an der unteren Staumauer, die das Holt gegen die Küstenebene abschloss. Er war der Ingenieur der Gemeinschaft, ich würde sein Amt irgendwann übernehmen.

Viele Jahre lang ließen die Sturmdämonen niemanden mehr an uns heran

Plötzlich schrillte ein Alarmton durch die Generatorenhalle. Die Monitore im Kontrollraum meldeten gefährlich ansteigende Radioaktivität an den Filtern der Belüftungsanlage.

Mein Vater rief die Filterdiagramme aller Gebäude auf und starrte erschrocken auf die rot hinterlegten Werte. Die KI wies uns darauf hin, dass die Gefahr von außen kam. Mein Vater entschied, dass alle sofort die Schutzbunker aufsuchen sollten. Also strömte unsere Gemeinschaft in die ehemalige Militäranlage, zu der wir aus dem Holt Zugang hatten.

Die Fahrzeughalle und das Baustofflager waren so konstruiert, dass sie mehrere hundert Menschen vor Atomkriegen und Vulkanausbrüchen schützen konnten. Eigentlich liebten wir die regelmäßigen Alarmübungen und rissen unsere Witze darüber, so wie man im Spiel lachend »Wolf!« ruft. Aber jetzt stand er plötzlich vor uns, riesenhaft und grau.

Am ersten Tag hörte ich meine Mutter fragen, ob es vielleicht nur ein Unfall war. Ein explodiertes Kernkraftwerk, ein fehlgeschlagener Atomwaffentest. Doch mein Vater wollte nichts davon hören. Die Signatur des Fallouts deute auf Bomben hin, und bei der Stärke der Strahlung müssten hunderte explodiert sein, antwortete er. Meine Mutter begann zu weinen.

Wir nannten diese Zeit »Ragnarök«, die Dämmerung der Götter und der Menschen. Draußen wurde es ungewohnt kalt, der ewige Sturm ließ deutlich nach, und manchmal regnete es bis zu zehn Tage hintereinander überhaupt nicht. Dann, nach bangen Wochen, frischte der Sturm wieder auf.

Der gewohnte tägliche Regen kehrte zurück und wusch den strahlenden Staub in den Fluss. Mein Vater hatte das untere Staubecken leerlaufen lassen, damit die radioaktiven Partikel sich nicht mit dem Schlamm im See absetzen konnten, sondern gleich ins Meer flossen. Erst nach mehr als zwei Monaten durften wir in unsere Häuser zurück.

Für uns Holter hatte sich nichts verändert, für die Älteren alles. Und dann fanden wir den toten Mann. Als wir den unteren Stausee wieder fluten wollten, lag er zerschmettert am Fuß der Mauer. Er hätte nicht hier sein dürfen, und dennoch lag er da, und schlimmer noch, er trug Waffen. Ein Gewehr, ein Messer, vier Handgranaten. Sein grüner Tarnanzug und der Inhalt seines Rucksacks verrieten uns nicht, woher er gekommen war.

Mehrere Monate lang stellten wir Wachen an die Staumauer. Doch die Sturmdämonen, unsere verlässlichen Kerkermeister, ließen niemanden mehr an uns heran, 16 Jahre lang, bis gestern – als plötzlich das vertraute Heulen des ewigen Sturms abschwoll und verstummte. Als wir erstaunt hinausgingen, leuchtete der sonst grau gefleckte Himmel in einem unirdischen Blau, und ein gleißendes gelbes Auge verströmte Wärme und Licht. Zum ersten Mal seit Jamies Verschwinden fühlte ich den Drang, zu beten.

Die Dämonen sind gegangen. Unsere Kerkertür steht offen. Wir könnten einfach bleiben und warten, ob die Welt zu uns kommt. Doch die Versammlung hat anders entschieden. Eine Expedition wird nach Reykjavik fahren. Vielleicht ist dort jemand zurückgeblieben. Die Versammlung hat mir die Ehre übertragen, eines der schweren Raupenfahrzeuge durch die weglose Öde zu steuern. Ich habe Angst davor, und ich könnte ablehnen. Aber dann denke ich an Jamie, der den Mut gehabt hat, aufrecht gegen den Sturm zu kämpfen.

Wir fahren morgen beim ersten Licht.

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