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Futur III: Cyborg-Basar

Die Tücken eines Exklusivvertrags.
Cyborg mit menschlichem Gesicht und offener Rückseite, bei der man das technische Innere erkennen kann.

Unter dem Sonnensegel des Marktstands werden menschenkompatible Beine, Füße, Arme, Hände, Gesichter, Ohren, Augen und Geschlechtsorgane angeboten. Der Verkäufer lächelt breit, weil ich interessiert einen glänzenden metallenen Fuß begutachte, und verspricht enthusiastisch: »Best Quality!«

Das gilt hier angeblich für alles Kybernetische – für Profisport-Prothesen, Militär-Enhancements, Cyborg-Genitalien, Techno-Modifikationen. Unabhängig von der Güte der Teile steht aber zweifelsfrei fest: Wer sich irgendwie außerhalb der gängigen Regularien verändern will, der ist auf den Philippinen und auf dem Cyborg-Basar genau richtig.

Hier gibt es nichts, was es nicht gibt.

Unterwegs zum Cyborg-Basar, einem eigenen Areal des riesigen Schwarzmarkts von Manila, sah ich bereits gen-gehackte Tierhybriden, illegale Traum-Synthesizer, garantiert nicht lizensierte Sexbots mit dem Aussehen toter oder lebender Filmstars, gestohlene Regenmacher-Drohnen-Systeme, bunkerbrechende Lenkraketen und vieles mehr.

Allerdings mache ich mir trotz des breiten Angebots keine Hoffnungen, in der Hitze und dem Gewimmel zu finden, was ich brauche. Deshalb bin ich aber auch nicht hier. Ich habe bereits vor fünf Jahren das perfekte künstliche Bein bekommen, das fest mit meinem Körper verwachsen ist.

Nach mehreren schmerzhaften Operationen und Fehlschlägen, die viel mit synaptischer Inkompatibilität zwischen Körper und Kybernetik zu tun hatten, erhielt ich schließlich ein Hightech-Bein mit dem neuesten Chip, den neuesten Sensoren, der neuesten Software, kurzum dem neuesten Stand in diesem Bereich.

Was mich meinen Unfall beinahe vergessen ließ.

Jedenfalls bis die Firma, der ich das technologische Wunder an meinem Schenkel zu verdanken habe, kurz nach meiner OP wegen menschenverachtender Experimente dichtgemacht wurde. Woraufhin sich die geniale Chefwissenschaftlerin Dr. Cassara aus dem Staub machte und von jedem Radar verschwand.

Ohne regelmäßige Checks und die neuesten Updates der Steuerungssoftware hätte ich vermutlich leben können. Zum Verhängnis wurde mir ein Virus, der bei einer Attacke auf mein Smart Home auch mein künstliches Bein infizierte. Und einzig Dr. Cassara hat die Berechtigungen, die man für eine Neuinstallation des Prothesen-OS benötigt. Was ursprünglich meiner eigenen Sicherheit, der Exklusivität unserer Geschäftsbeziehung und dem Schutz von Dr. Cassaras Meisterwerk diente, verhindert seither, dass andere mir helfen können.

Der Virus hat mein Bein nicht lahmgelegt, beeinträchtigt dessen Funktionsweise jedoch massiv. Ich hinke wie jemand, der keinen annähernd so kostspieligen Ersatz hat, spüre Gewicht und Unsicherheit, wo vorher Entlastung und Verlässlichkeit waren.

Ich will keine neuerliche Amputation und kein neues Bein, nicht noch einmal die Hölle der Anpassung und Abstoßung durchleben. Nein. Ich will, dass es wieder so wird wie vor dem Virus.

Dafür muss ich Dr. Cassara finden.

Mein Vorteil: Es war mal mein Beruf, Menschen aufzuspüren, ehe ich meine Security-Firma für ein Haus in den Bergen und ein Hightech-Bein verkauft habe. Und ich war gut in meinem Job.

So kam ich nach allerhand Hinweisen, Gerüchten, Falschinformationen, frustrierenden Puzzleteilen, Sackgassen und Zwischenstopps auf den Cyborg-Basar, wo ich jetzt zwischen Ständen und Buden voller Körperteile umherhinke.

Ich spreche mit Menschen aus über einem Dutzend Ländern. Die Verständigung ist auf Grund von Dialekten und Genuschel trotz Übersetzungs-KI hin und wieder ein Problem, doch keines, das sich nicht überwinden ließe. Ich bezahle in vielen Währungen, digital wie bar – das verstehen alle. So, wie ich den Spruch des betrunkenen Typen verstehe, der lallend und lachend auf mich deutet und nach einem Robo-Footjob fragt. Ich ignoriere ihn.

Gegen Abend treffe ich endlich die richtige Person, erstehe ich die lange gesuchte Information, das letzte Puzzleteil. Leider ist es zu spät, um heute noch zu fahren. Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Besuch einer Cyborg-Kampfveranstaltung. Das Ambiente ist so abstoßend, wie man es erwarten kann. Ich hocke mich auf einen Platz weiter hinten, wo ich keine Blutspritzer abkriege.

Ich hocke mich auf einen Platz weiter hinten, wo ich keine Blutspritzer abkriege

Am nächsten Morgen miete ich ein Motorboot mit Verdeck und weise den Autopiloten an, mich zu den Koordinaten zu bringen, die ich auf dem Basar gekauft habe.

Zwei Stunden jenseits der Schleuse durch den Flut- und Tsunamiwall erreiche ich eine kleine tropische Insel – die vom steigenden Meeresspiegel bisher verschonten Überreste eines ursprünglich wesentlich größeren Eilands, von dem nur noch einige Bergkuppen mit Urwald aus dem Wasser ragen. Kaum dass ich mein klemmendes Bein mit einiger Mühe auf den Fels setze, kommen fünf riesige Cyborg-Hunde aus dem Dschungel gerannt und kreisen mich ein. Das Blut in meinem Kopf rauscht mit dem Ozean um die Wette. Ich schwitze und schaue dem vordersten der kybernetischen Köter in die künstlichen Kameraaugen.

»Dr. Cassara?«

Erst denke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe und die Hunde sich jetzt auf mich stürzen werden. Doch dann ertönt eine Frauenstimme aus einem Lautsprecher irgendwo an dem Cyborg-Biest: »Sie haben einen weiten Weg hinter sich.«

»Ich weiß. Ich musste ihn schließlich gehen

»Mit einem defekten Bein.«

»Ja.« Ich lege eine Hand auf das Metall. »Leider.«

Ein kurzes Zögern. »Folgen Sie den Hunden.«

Das Rudel eskortiert mich durch den Urwald zu einem Holzhaus im Schutz einer Bergflanke. Dr. Cassara erwartet mich an der Tür. Sie berührt einen der Maschinenhunde am Kopf und begrüßt mich, ohne mir die Hand hinzuhalten. Die zierliche Wissenschaftlerin, die meines Wissens nach keine einzige Modifikation hat, sieht bis auf etwas mehr Grau im Haar noch so aus wie damals.

»Ich würde ja sagen, dass es mich freut, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Nur hat es seine Gründe, dass ich hier auf einer einsamen Insel am anderen Ende der Welt lebe, die jederzeit weggespült werden könnte.«

»Ich weiß. Und es tut mir leid, Sie zu stören. Aber ich brauche Ihre Hilfe.«

Dr. Cassara mustert mein Bein. »Was ist passiert?«

Ich erzähle ihr von dem Virus und dass niemand außer ihr an das System der Prothese herankommt.

Sie grinst humorlos. »Exklusivverträge, hm?« Mit einem Wink bedeutet mir die brillante Kybernetikerin im Exil, dass ich reinkommen soll.

»Werden Sie mir helfen?«, frage ich, als wir durch ihr klimatisiertes Heim gehen.

Dr. Cassara geleitet mich in ein Zimmer mit offener Küche.

»Erst essen wir«, sagt sie. »Um ehrlich zu sein, freue ich mich jetzt sogar auf Lunch in menschlicher Gesellschaft.«

Ich versuche, meine Ungeduld im Zaum zu halten. Doch was für einen Unterschied machen ein Essen oder etwas Smalltalk nach der langen Suche, die ich hinter mir habe?

Dr. Cassara serviert Reis, Fisch, Gemüse, Obst. Es schmeckt lecker – auf meiner Odyssee habe ich schon schlechter gegessen. Beim Kochen und beim Essen unterhalten wir uns über ihre Wachhunde, wie sie sich mit Sonnenkollektoren, einer Süßwasserquelle, Handelsschiffen und Lastdrohnen autark und anonym versorgt, über die Proteste gegen die Rechte künstlicher Persönlichkeiten sowie über die Politik der jungen südamerikanischen Konföderation.

Gerade als ich etwas zur geforderten Aufstockung des Tsunamiwalls sagen will, merke ich, wie müde ich plötzlich bin. Ich fühle mich richtig schwach und schwummrig, kann mich nicht länger artikulieren. Alles dreht sich.

Dr. Cassara blickt mich emotionslos an.

Ich rutsche seitlich vom Stuhl.

Das Letzte, was ich sehe, bevor ich das Bewusstsein verliere, ist Dr. Cassaras unbewegtes Gesicht über mir.

Als ich wieder ein Stück weit zu mir komme, befinde ich mich in einem anderen Raum, ohne Fenster. Das Licht ist dennoch grell und gnadenlos. Außerdem bin ich auf einen Operationstisch geschnallt. Keine Ahnung, wie sie mich hierhergebracht hat. Vermutlich doch Enhancements, die ich nie gesehen habe.

»Entschuldigen Sie«, sagt Dr. Cassara. Sie trägt einen grauen OP-Kittel und ein Plexiglasschutzvisier mit AR-Overlay. »Zu wenig Narkosemittel. Aber das haben wir gleich …«

Ich starre das Werkzeug in ihren festen Handschuhen an, das an eine große Kreissäge erinnert.

»Nicht«, nuschle ich, schwach und benebelt.

Dr. Cassara schüttelt bedauernd den Kopf, derweil sie mit einer Augenbewegung mehr Anästhetikum in meinen Körper injiziert. »Auf dem Markt gibt es allen möglichen Schrott, wie Sie gesehen haben. Nichts davon ist auch bloß annähernd so gut wie das, was wir damals entwickelt und hergestellt haben. So etwas wie Ihr Bein gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt. Sie haben ja für den Prototypen unterschrieben. Bevor wir mehr bauen konnten, wurde der Laden geschlossen. Ich fürchte also, ich muss diesen Teil meines Lebenswerks von Ihnen zurückfordern, um den nächsten kybernetischen Evolutionssprung zu schaffen. Das ist nichts Persönliches. Es geht allein um die Wissenschaft. Den Fortschritt.«

»Hab' Geld«, murmle ich, vergeblich gegen die Benommenheit ankämpfend. »Kann zahlen …«

Dr. Cassara schnalzt mit der Zunge. »Hören Sie auf zu feilschen. Wir sind hier nicht auf dem Basar.«

Damit wirft sie die kreischende Säge an.

Während ich wieder ganz in die Schwärze abdrifte, graben sich Metallzacken in mein Bein – in den organischen Teil, damit das kybernetische Wunder nicht beschädigt wird …

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