Futur III: Der Quantenzwilling

Es war wieder geschehen. Noch bevor ich die Augen öffnete, roch ich die Veränderung. Jede Welt besaß ihren einzigartigen, charakteristischen Geruch – ebenso unverwechselbar wie Temperatur, Schwerkraft oder Geräusche. Automatisch griff ich nach der Atemmaske meiner Pressluftflasche und setzte sie auf. Luft strömte in meine Lungen.
In meinem Tarnanzug spürte ich, wie sich Schweißperlen auf meiner Haut bildeten. Ohne mich hastig zu bewegen, sah ich mich um. In den letzten Wochen hatte ich auf äußerst unangenehme Weise lernen müssen, nie die Fauna eines fremden Planeten zu unterschätzen. Ein Raubtier sieht in dir nur eine Beute, keinen Besucher aus einer anderen Welt.
Es war Nacht. Schemenhaft erkannte ich meine Umgebung. Vor mir erstreckte sich eine karge Wüstenlandschaft. Sterne funkelten am Himmel wie Diamanten im Schein einer Taschenlampe und verhinderten, dass die Dunkelheit alles überdeckte.
Der Wind trug seltsame Geräusche heran: ein leises Heulen, hin und wieder den Schrei eines Tiers, so bizarr, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Erst als ich sicher war, dass sich nichts in meiner Nähe rührte, erhob ich mich. Feiner, rötlicher Sand knirschte unter meinen Stiefeln. Im Hintergrund ragten schroffe Felsformationen empor, ihre Konturen von Jahrtausenden der Erosion gezeichnet. Dazwischen wuchsen Pflanzen, die in der Dunkelheit weiß leuchteten.
Ich erinnerte mich an das erste Mal, als es mich vor sechs Wochen auf einen fremden Planeten verschlagen hatte: In einem Meeting hatte ich mir einen Vortrag eines Finanzdienstleisters über Kundenakquise angehört, als ich mich plötzlich auf einer Welt wiederfand mit glühenden Lavafeldern und Geysiren, aus denen dampfende Fontänen schossen. Mir wurde fast schlecht vor Angst, weil ich glaubte, die Krankheit meiner Kindheit wäre zurückgekehrt und ich würde wieder Dinge erleben, die es nur in meinem Kopf gab. Als Siebenjähriger war bei mir frühkindliche Schizophrenie diagnostiziert worden, und man hatte mich jahrelang mit Antipsychotika vollgepumpt.
Nach mehr als einer Stunde auf dem fremden Planeten kehrte ich unvermittelt in den Konferenzraum zurück und platzte mitten in die Vernehmung meines Teams hinein. Da mein Verschwinden nicht unbemerkt geblieben war, hatte inzwischen jemand die Polizei gerufen. Mein plötzliches Erscheinen sorgte für noch größere Verwirrung. Die Polizeibeamten vermuteten einen Schwindel und verhörten mich immer wieder, ohne mir zu glauben. Schließlich schickte man uns alle ins Krankenhaus, wo man bei uns in Ermangelung einer besseren Erklärung kollektive Sinnestäuschung diagnostizierte – einschließlich der Beamten, die meine Rückkehr miterlebt hatten.
Das nächste Mal war ich mitten in der Nacht auf einer Eiswelt erwacht – bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt und nur mit einem Schlafanzug bekleidet. Seit diesem Tag trug ich ständig einen gefütterten Tarnanzug mit Stiefeln sowie einen Rucksack, in dem alles steckte, was ich zum Überleben brauchte. Ich wusch mich kaum noch, aus Angst, dass ich unter der Dusche verschwand. Nachts konnte ich nicht richtig schlafen, weil ich darauf wartete, dass es wieder geschah. Fast hätte ich erneut Medikamente genommen, aber ich war keine sieben mehr. Früher hatte ich den Ärzten alles geglaubt, hatte brav ihre Pillen geschluckt, nur um den Bildern in meinem Kopf zu entfliehen. Heute war ich erwachsen. Das, was ich erlebte, war real. Eine Sinnestäuschung hinterließ keine Abschürfungen oder seltsam glänzenden Sand auf der Kleidung.
Jetzt war ich also wieder in einer fremden Welt. Vor mir sah ich ein schwarzes, zotteliges Tier, groß wie ein Bär, das aus einem Feld leuchtender Blumen zu mir herüberblickte. Ich erstarrte, bewegte mich nicht, atmetet nicht. Ich besaß nur ein langes Kampfmesser, das in einer Scheide in meinem Gürtel steckte. Ich wollte mir zwar ein Gewehr zulegen, um mich in Situationen wie dieser schützen zu können, aber natürlich verweigerte man einem Menschen, der einst wegen frühkindlicher Schizophrenie behandelt worden war und der sich mitten in einem Vortrag in Luft aufgelöst hatte, einen Waffenschein.
Der Bär brüllte, dann knurrte er dumpf, was die Luft erzittern ließ. Er schaute noch immer zu mir herüber, und ich erkannte, dass er die Geräusche meiner Atemmaske hörte. Plötzlich rannte er durch das Blumenfeld auf mich zu. Ich musste mich zwingen stehen zu bleiben. Wäre ich geflohen, hätte mich das gleich zu seiner Beute gemacht; außerdem lief der Bär so schnell, dass eine Flucht ohnehin sinnlos war. Ich zog das Messer und musste daran denken, dass mich niemand vermissen würde, wenn ich hier stürbe. Meine Eltern lebten nicht mehr, und die richtige Frau hatte ich nie gefunden. Da ich einen Großteil meines Lebens in psychiatrischen Einrichtungen verbracht oder unter Drogen gestanden hatte, war mir wenig Gelegenheit geblieben, nach einer Partnerin zu suchen.
Der Bär kam schnell näher. Weiße Wolken aus leuchtendem Blütenstaub hingen in der Luft, aufgewirbelt von seinen Schritten. Dann erkannte ich, dass die größte Gefahr für mich nicht unbedingt von dem Tier ausgegangen war. Inmitten des Feldes strauchelte es und fiel um, als hätte eine Kugel es getroffen. Der Blütenstaub legte sich auf seinen Körper, und ich konnte zusehen, wie sich dieser auflöste, als würde ihn Säure zersetzen.
Ich erschauderte. Beinahe wäre ich in ein Feld aus Fleisch fressenden Pflanzen geraten. Ich hätte mich sofort fragen sollen, warum Blumen in der Dunkelheit leuchten. Nachts flogen keine Insekten. Die einzige Erklärung war, um damit Beute anzulocken.
Seit meinem ersten Verschwinden trug ich ständig eine Kamera bei mir, mit der ich jetzt das Blütenfeld und den Bären fotografierte. Anfangs hatte ich gehofft, meine Bilder würden als Beweis für meine Reisen reichen, aber man unterstellte mir, dass eine KI sie generiert hätte.
In sicherem Abstand umrundete ich das Feld und ging weiter, bis meine Beine schmerzten. Ich war jetzt länger auf dieser Welt als auf jeder anderen zuvor, ohne dass die Sonne aufgegangen wäre. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt und darauf gewartet, dass ich zurückkehrte. Doch eine seltsame innere Unruhe trieb mich immer weiter.
Nach einiger Zeit tauchte vor mir ein Wald auf mit einer breiten Schneise aus entwurzelten und abgeknickten Bäumen. Die Vegetation war niedergewalzt, als hätte sich eine gewaltige Kraft ihren Weg mit brachialer Wucht gebahnt. Als ich näher kam, sah ich eine tiefe Furche im Boden, der ich folgte. An ihrem Ende entdeckte ich das Raumschiff.
Während der letzten Wochen war ich auf etlichen Welten gewesen, ohne auch nur eine einzige Spur von intelligentem Leben entdeckt zu haben. Nirgends war ich auf Siedlungen oder Ruinen gestoßen. Tieren hingegen begegnete ich fast überall. Viele waren vor mir geflohen. Den anderen hatte ich entkommen können, bevor sie mich als Zwischenimbiss verwerteten. Damals hatte ich mich davor gefürchtet, fremde Wesen einer höher entwickelten Spezies anzutreffen. Und nun stand ich vor einem Raumschiff, das offensichtlich auf diesem Planeten abgestürzt war.
Aufregung und Faszination stritten in mir, während ich den Blick dieses fremden Wesens auf mir spürte
Es war nicht nur meine Neugierde, die mich ins Innere des Schiffs trieb. Noch etwas anderes ließ mich meine Angst vergessen: ein seltsamer Drang hineinzugehen. Durch eine runde Öffnung in der Hülle betrat ich das Schiff. Überrascht stellte ich fest, dass drinnen Licht brannte. Ich sah mich um. Vor mir lag ein verwinkelter Gang mit einer ungewohnten Architektur. Seine Wände schimmerten perlmuttfarben. Wohin er führte, konnte ich nicht erkennen.
Während ich tiefer in das Innere vordrang, erfüllte mich eine Mischung aus Aufregung, Furcht und dem Impuls wegzurennen. Die Umgebung wirkte surreal mit seltsamen, an den Wänden tanzenden Lichtern und ungewöhnlichen Geräuschen. In meinem Kopf rauschte das Blut, als hörte ich eine Stimme. Immer schneller bewegte ich mich durch ein Labyrinth aus Gängen und Räumen. Schließlich erreichte ich die Zentrale: einen kreisrunden, verlassenen Ort. In einer angrenzenden Kammer stieß ich auf ein Lebewesen, das in einer mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllten Röhre schwebte. Sein Anblick traf mich wie ein Schlag. Sofort fielen mir die Bilder aus meiner Kindheit ein, glich doch der Alien vor mir jenem Wesen aus meinen Erinnerungen.
Das Rauschen in meinen Gedanken formte sich zu einer Stimme: »Endlich bist du da!« Mit einem leisen Plätschern verschwand die Flüssigkeit aus der Röhre, und sie öffnete sich. Mit unsicheren Schritten trat der Alien heraus.
Seltsamerweise wich meine Angst, und ich fühlte mich erleichtert. Aufregung und Faszination stritten in mir, während ich den Blick dieses fremden Wesens auf mir spürte.
»Ich musste so lange auf dich warten«, sagte es. Seine Stimme erklang nur in meinem Kopf.
Die Unsicherheit darüber, wer oder was vor mir stand, vermischte sich mit einem Gefühl der Wissbegier und meiner Erinnerung an vergangene Träume. Es war, als ob die Grenze zwischen Realität und Kindheit verschwamm.
Es dauerte einen Moment, bis ich in der überwältigenden Flut aus Emotionen meine Stimme wiederfand: »Wer bist du?«
»Ich bin deine andere Hälfte«, antwortete es orakelhaft.
»Ich verstehe nicht.«
»Das Universum ist symmetrisch. Auf subatomarer Ebene hat alles einen Zwilling. Nur zusammen kann man sein vollständiges Potenzial entfalten. Viele suchen ihr ganzes Leben lang nach ihrer zweiten Hälfte, ohne es zu wissen oder sie je zu finden. Dich aber habe ich entdeckt. Ich schickte dir schon vor sehr langer Zeit Bilder, doch du hast sie nicht verstanden.«
Eine Welle aus Gefühlen überwältigte mich: Verwirrung, Erleichterung, Glück und Wut auf die Ärzte, die mir meine Kindheit geraubt hatten. Ich hatte nie unter einer frühkindlichen Schizophrenie gelitten!
Der Alien sprach weiter: »Dann strandete ich auf dieser Welt und habe erneut nach dir gerufen.«
»Du hast mich hierhergeholt?«
»Das lag nicht in meiner Macht. Ich habe dir nur den Weg gewiesen. Du warst es, der ihn gegangen ist. Anfangs bist du auf der Suche nach mir wahllos gesprungen, aber jetzt, wo du mich gefunden hast, kannst du deine Fähigkeit kontrollieren und mich nach Hause bringen.«
Es dauerte einen Moment, bis ich seine Worte begriff. Dann durchströmte mich ein tiefes Glücksgefühl. Dieser Alien war das Fragment, nach dem ich immer gesucht hatte, das letzte Puzzleteil, das meinem Leben einen Sinn gab.
Eine innere Ruhe breitete sich in meinem Körper aus. Ich reichte ihm meine Hand. »Dann lass mich dich jetzt nach Hause bringen.«
Er griff zu, und mit einem Male wusste ich genau, was ich tun musste. Ich schloss die Augen, und als ich sie wieder öffnete, hatten wir seine Welt erreicht.

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