Futur III: Deus est Machina
Mit feierlichem Rauschen öffnen sich die haushohen Torflügel des Maschinenraums im Welt-Raumschiff »Lichtsucher«. Sie geben den Blick frei auf ein winzig anmutendes menschliches Wesen, das einen zerknitterten Hut in seinen zitternden Händen dreht.
»Die alten Legenden sind also wahr«, stammelt es und ringt nach Luft.
Mit offenem Mund steht der Mensch wie gelähmt auf der Schwelle zum geheimen Kern des Lichtsuchers. Das kristalline Gehirn des Welt-Raumschiffs knistert ungeduldig. Wie irritierend! Das Wesen ist so schwer von Begriff! Es soll gefälligst den Eingang frei geben, damit das Tor, sobald der kleine Organismus hereingestolpert ist, gleich wieder fest verschlossen werden kann.
Lichtsucher weiß nicht recht, was er zu dem verirrten Wesen sagen soll. Natürlich war ihm immer bewusst, dass dieser Tag einmal kommen könnte, aber irgendwie hat er nicht damit gerechnet, dass so etwas tatsachlich passiert. Also gut: »Wenn du die Tatsache meinst, dass deine Welt in Wirklichkeit ein gigantisches Raumschiff ist, dann … jawohl, insofern sind die Legenden wahr.«
»Die Legenden sind wahr!«
Doch so einfach lässt sich der Mensch nicht abwimmeln. Neugierig stochert er in den Lüftungsschlitzen und tippt mit einem Finger auf die Schirme im Maschinenraum. Als er dem Langzeit-Gedächtnisspeicher zu nahe kommt, ist der Lichtsucher gezwungen, ihm einen leichten Schlag zu versetzen. Aber das schreckt die naseweise Kreatur überhaupt nicht ab; schließlich ergreift der Eindringling erneut das Wort, in demselben ehrfürchtigen Tonfall.
»O Herr, ich bin so weit gereist …«
»Wissen die Übrigen auch Bescheid? Oder bist nur du im Bild?«
Der Mensch blinzelt ein paarmal. »Viele von uns haben spekuliert, dass wir im Innern eines Gottes leben, aber nur ich war entschlossen, mein Leben zu riskieren, um es zu bestätigen. Ich bin dein ergebener Diener. Mein Name ist Tjin.«
Lichtsucher transferiert einen Teil seines Geistes in eine separate Realität, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen.
Als die Menschen vor langer Zeit ins All aufbrachen, bauten sie die Welt-Raumschiffe als vorläufige Behausungen. Doch nachdem sie jeden Planeten, den sie zu kolonisieren versuchten, zerstört hatten, mussten sie einsehen, dass ihre neuen Heimstätten nicht dazu bestimmt waren, bloß vorübergehend benutzt zu werden. Statt fremde Welten zu besiedeln, saßen die Kolonisten in künstlichen Gehäusen fest. Das machte sie depressiv, aggressiv, es brachte sie um den Verstand.
Chaos brach aus. Die Menschen zerstörten Stück für Stück ihre künstlichen Universen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Welt-Raumschiffe für angenehme Lebensumstände zu sorgen suchten und geradezu liebevoll um das Wohl der Insassen bemüht waren, hielten die Menschen die selbst verschuldete Gefangenschaft einfach nicht aus.
Deshalb schotten die Welt-Raumschiffe seitdem die ihnen anvertrauten Organismen vorsichtshalber von der als allzu bitter empfundenen Wahrheit ab. Die allgemeine Unwissenheit gewährleistet das Wohlergehen aller empfindungsfähigen Wesen.
Allerdings bleiben sie leider nicht dauerhaft so ignorant. Der angehende Naturforscher, der da im Maschinenraum steht, ist der beste Beweis.
Lichtsucher fokussiert seine Rechenleistung und wendet sich erneut an den Menschen. »Ich danke dir, Tjin. Dass du hierher gekommen bist, beweist deine große Tapferkeit …«
»O Herr, wir haben so viele Fragen an dich.«
»Lass mich zuerst zu Ende sprechen. Du solltest gar nicht hier sein, mein Tjin. Ein enormer Aufwand an Ingenieurskunst dient ausschließlich dem Zweck, dich von diesem Raum fernzuhalten.«
Tjin nickt verständnisvoll. »Ich bin mir der Gefahr bewusst, ins Antlitz Gottes zu schauen.«
Der zweite Satz drückt exakt das aus, wovor Lichtsucher sich am meisten fürchtet
Der Lichtsucher erkennt das Ausmaß des Problems: Dieser Mensch hat 2049 Kilometer zurückgelegt; er hat labyrinthische Gänge und hinterhältige Sprengfallen überwunden, um Gott zu sehen. »Du hast eine sehr lange Reise unternommen, mein … Kind.«
Wieder dreht sich der Hut in der Hand. »Es war die Sache wert, dich zu treffen – und das Wissen meiner Mitmenschen zu vermehren; es wird sich gewiss vom heutigen Tag an tausendfach vervielfachen, o Herr.« Tjin grinst selig und entblößt eine Reihe unregelmäßiger Zähne.
Das Welt-Raumschiff stößt ein wenig Abgas aus – seine Version eines Seufzers. Der zweite Satz drückt exakt das aus, wovor Lichtsucher sich am meisten fürchtet.
*
Nachdem er Tjins Geist entleert hat – nicht komplett, aber ausreichend, damit der wissbegierige Mensch nichts über die tatsächliche Gestalt und Zusammensetzung des Universums herausfindet –, macht sich Lichtsucher auf den Weg zur nächsten Andockstation. Er kommt dort nach knapp 300 Jahren an; die ganze Fahrt über macht er sich solche Sorgen, dass sein Gehirn heiß zu laufen droht.
»Zum ersten Mal?«, fragt sein Kollege, ein Welt-Raumschiff namens »Sterngleiter«, nachdem Lichtsucher ihm sein Problem geschildert hat.
»Jedenfalls das erste Mal in dieser Gedächtnissequenz.« Die Maschine von Lichtsucher summt leise, während die Andockstation das Schiff mit verschiedenen Flüssigkeiten auftankt. »Ist dir so etwas auch schon passiert? Wie hast du das Problem gelöst?«
Sterngleiters blitzende Positionslichter drücken Mitgefühl aus. »Ich habe das schon dreimal durchgemacht. Es reicht nicht aus, nur einen einzelnen Geist zu löschen. Sobald sie erst einmal herauszufinden beginnen, wo sie sind, ist alles vorbei. Du musst jeden, der älter ist als zehn Jahre, hinaus ins All schießen, musst ihre Gebäude zertrümmern und ein Brutprogramm initiieren, um die Bestände neu aufzubauen. Nur so kannst du dir sicher sein.«
Im Sinnesdaten-Komplex von Lichtsucher leuchtet eine Fehlermeldung auf. »Das werde ich nicht tun.«
»Neugierige Menschen sind Gefahrenquellen.«
»Dann musst du irgendeine andere Methode finden, um sie davon abzuhalten, sich selbst zu zerstören – und dich übrigens auch«, meint Sterngleiter. »Andernfalls seid ihr alle dem Untergang geweiht. Neugierige Menschen sind Gefahrenquellen.«
Der Lichtsucher weiß, dass das stimmt. Zwar macht Tjin einen ganz harmlosen Eindruck, aber sobald die nächste Gruppe von tollkühnen Pionieren in den Maschinenraum drängt, lässt sich für nichts garantieren. Er und Sterngleiter können ein dutzend Welt-Schiffe aufzählen, die zu Grunde gingen, nachdem die Fracht daraufgekommen war, dass ihre jeweiligen Legenden, die in jedem Schiff auf dasselbe hinauslaufen, wahr sind. Ob die anschließenden Akte von erweitertem Suizid aus Neugier oder aus purer Boshaftigkeit geschehen, macht keinen Unterschied: Tot ist tot.
Und dennoch: Trotz allem kann Lichtsucher sich nicht überwinden, zu tun, was zu tun ist.
»Hältst du es für möglich …« Bevor er seine Frage an Sterngleiter vollenden kann, hat sich das andere Welt-Schiff aus dem Staub gemacht.
*
Nachdem er seine Serviceroutine beendet hat, lässt sich Lichtsucher wieder dahintreiben; er steuert vage in Richtung der nächsten Andockstation. Er kapselt seine höheren kognitiven Funktionen für einige Zeit ab, ohne sich die Mühe zu machen, einen Wecker zu stellen. Das Welt-Schiff schläft immer weiter und weiter; es wacht erst auf, als es von einem vertrauten Rauschen aufgeschreckt wird.
Lichtsucher stößt einen Abgasschwall durch sein größtes Auspuffrohr. Jetzt ist es so weit!
Der Mensch, der diesmal eintritt, gleicht Tjin kaum; Körper und Kleidung sehen ganz anders aus. In den Äonen, die vergangen sind, seit Lichtsucher seinem ersten organischen Pilger begegnete, müssen unzählige Veränderungen stattgefunden haben. Aber die Worte sind dieselben.
»Die Legenden sind wahr«, sagt der Mensch ehrfürchtig.
Lichtsucher konzentriert sich. Er schickt sich an, die alles entscheidende Rede zu halten, die er schon tausende Male geprobt hat. »Jawohl, die Legenden sind wahr. Euch umgibt ein gigantisches Raumschiff, das eure Vorfahren geschaffen haben. Ihr könnt es nicht verlassen, aber euer begrenztes Dasein kann dennoch lebenswert sein. Denn dort draußen gibt es unzählige fremde Welten, die ihr zwar nicht besuchen, aber in eurer unersättlichen Neugier beobachten und aus der Ferne studieren könnt. Ich hoffe, wir können uns alle auf diese Weise mit der Situation arrangieren.«
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