Futur III: Die Optimierten

Mein Körper schaltet in den Energiesparmodus. Ich schaue auf meine Smartwatch: Akkustand 14 Prozent, kein Ladevorgang. Die Boostertechnik fährt herunter, zuerst die Motorikverstärkung in den Gliedmaßen. Jeder Schritt fühlt sich an, als schleppte ich mich einen Hang hinauf. Dabei verläuft die Straße ebenerdig; alle Hügel im Distrikt wurden schon vor Jahren abgetragen.
Ich könnte mich auf das Laufband in der Straßenmitte stellen. Doch ich bleibe lieber auf dem Induktionsstreifen. Hier müssten meine Akkus eigentlich Energie ziehen.
Tun sie aber nicht – immer noch kein Ladevorgang, meldet die Smartwatch.
Vor mir torkelt ein Mann auf dem Streifen. Er ist noch langsamer als ich. Ein paar Leute stehen auf den Laufbändern und lassen sich in entgegengesetzte Richtungen transportieren. Sie sehen erschöpft aus wie Marathonläufer kurz vor dem Ziel.
Auf der Straßenseite ohne Induktionsstreifen trotten einige Nichtoptimierte entlang. Ihre Bewegungen haben wie immer etwas Grobes, Dörfliches. Doch heute wirkt das im Verhältnis zu unsereinem geradezu tänzerisch. Ich glaube, Lisa zu erkennen, bin mir aber nicht sicher.
Damals hatte sie mir prophezeit, die Optimierung sei der falsche Weg. Aber in all den Jahren waren allenfalls die Wartungen unangenehm – nichts, das gegen die Kraft der Booster zählte. Und da war diese Hoffnung: auf ein erfülltes Leben, auf eine bessere Gesellschaft – eine Hoffnung, die Lisa nie geteilt hat.
Vom nächsten Laufband wankt ein Mann in einem glitzernden Kunststoffanzug mit den fluoreszierenden Ornamenten der neusten Mode zum Induktionsstreifen herüber. Er bewegt sich schwerfällig, als wäre sein Anzug aus Blei.
Ich möchte ihm zurufen, dass es hier keine Energie gibt. Doch meine Stimme ist zu schwach. Ich bekomme lediglich ein Krächzen heraus.
Ein erneuter Blick auf meine Smartwatch verrät: Akkustand 12 Prozent, kein Ladevorgang. Dafür kündigt eine blinkende Warnmeldung eine Notfalldurchsage an. Die Stimme der Obersten KI erklingt: »Das ist keine Übung. Es gibt eine Unterbrechung bei der Energieversorgung verbunden mit einer vorübergehenden Notabschaltung der Induktionsladeeinheiten. Alle Optimierten begeben sich laut Notfallplan umgehend in ihre Ruhekammern. Ich wiederhole. Das ist keine Übung …«
Die Passanten auf dem Induktionsstreifen wenden sich zum Laufband. Sie wirken wie betrunkene Soldaten, die den Gleichschritt suchen, aber nicht hinbekommen.
Ich folge ihnen, meine Schritte werden immer schwerer. Endlich erreiche ich das Band. Für einen Moment glaube ich, die Straße entlangzuschweben; ich bin schneller als die Nichtoptimierten auf der anderen Straßenseite. Je näher ich herankomme, desto sicherer werde ich, dass Lisa dort läuft. Sie trägt die grobe Leinenkleidung, die viele Nichtoptimierte aus Protest gegen die aktuelle Glamourmode bevorzugen. Ihre Locken haben noch dasselbe Aschblond. Was macht sie hier im Distrikt? Eigentlich müsste sie in der Vorstadt ihrer Handwerkerei welcher Art auch immer nachgehen. Dafür hat sie sich damals kurz vor dem Examen entschieden. Erst hatten wir darüber diskutiert, dann gestritten, schließlich nicht mehr miteinander geredet. Unsere Hoffnungen waren zu verschieden …
Stück für Stück schließe ich zu ihr auf. Ich bin beinahe neben ihr, als sie um die Ecke biegt: in die breite Allee, die zur Zentrale führt. Sie zieht einen Passierschein aus der Tasche. Umstandslos wird sie am Checkpoint durchgewinkt. Ohne Kontrolle – dabei dürfen Nichtoptimierte diesen Teil des Distrikts nur mit einer Genehmigung aus der Zentrale betreten.
Mein Akkustand beträgt noch 10 Prozent. Ich aktiviere den Basismodus. Damit werden lediglich die unentbehrlichen Nanotools in meinen Organen für mehrere Stunden versorgt. Auf dem Display erscheint die Bestätigung. Prompt spüre ich ein leichtes Stechen im Kopf. Die Chips zur Verstärkung der Hirnleistung haben sich offenbar abgeschaltet.
Das halte ich aus. Ich wechsle das Laufband und folge Lisa. Am Kontrollpunkt trete ich vom Band und weise mich aus. Der Bot liest die Daten von meinem Implantat in der Hand. Warum braucht der so lange? Endlich gibt der Bot den Weg frei.
Meine Beine fühlen sich an, als habe jemand Beton unter die Haut gegossen
Lisa hat die Freitreppe zur Zentrale erreicht, als ich wieder auf das Laufband wanke. Sie nimmt die Stufen. Das Laufband führt über einen Bogen zum Portal der Zentrale. Vor Lisa öffnet sich die Glastür, und sie tritt ein.
Ich habe noch ein paar Meter auf dem Band und bereite mich auf den Gang danach vor. Meine Beine fühlen sich an, als habe jemand Beton unter die Haut gegossen. Es sind nur fünf, sechs Meter bis zur Glastür. Wie ein Mantra murmle ich: »Das schaffe ich.«
Und los! Gleich beim ersten Schritt spüre ich ein Brennen in den Beinen. Es erinnert mich an den Sportunterricht in meiner Kindheit; dieses Spannen in den Schenkeln, das den Muskelkater am nächsten Tag vorwegnimmt.
Die Glastür geht auf. Ich erwarte einen Kontrollbot, doch hier ist nichts und niemand. Außer Lisa, die am Ende des Foyers auf den Lift wartet.
»Lisa!«, ächze ich.
Sie dreht sich um. Anscheinend erkennt sie mich nicht.
Ich rufe erneut und wanke auf sie zu. Ihr Blick verändert sich. Sie scheint es nicht zu glauben. Ich wünschte, meine Schritte wären fester, mein Gang sicherer. Ich komme mir vor, als hätte ich eine tagelange Wanderung durch ein Hochgebirge hinter und noch einen Tagesmarsch vor mir.
»Du?«, erwidert sie. »Hier?«
Ich nicke, weiß aber nicht, ob sie das bei meinen schleppenden Bewegungen erkennt.
Lisa tritt in den sich öffnenden Aufzug und sagt: »Ich warte. Du schaffst es doch bis hierher …«
Klingt sie sarkastisch oder besorgt?
Mit fehlt die Kraft, darüber nachzudenken. Ich fixiere den Handlauf im Aufzug, augenscheinlich ein Zierelement aus den Zeiten vor den Optimierungen. Dort könnte ich mich abstützen. Mit jedem Schritt wird mein Atem hektischer, aber ich nähere mich meinem Ziel. Schließlich erreiche ich den Handlauf, werfe mich gegen die Wand und versuche gar nicht erst, dabei elegant auszusehen. Ich atme durch.
»Alles in Ordnung?« Da klingt keine Spur von Ironie aus ihrer Frage heraus.
»Geht schon«, antworte ich. Tatsächlich wird es besser – nun, da ich mich nicht mehr bewege.
»Wo willst du eigentlich hin?«
»Das könnte ich dich auch fragen.«
Lisa drückt den Knopf zum obersten Stock. Laut schießt der Aufzug nach oben.
»Du hast einen Warnruf bekommen und solltest auf dem Weg in deine Ruhekammer sein.« Sie klingt sachlich wie eine Verwaltungs-KI.
Was soll ich entgegnen? Dass ich ihr aus Neugier gefolgt bin? Weil ich wissen möchte, was sie in der Zentrale zu suchen hat? Ich schweige.
»Wie lange laufen deine Booster noch?«, fragt sie in die Stille.
»Nicht mehr lange.«
»Kommst du noch bis in die Ruhekammer?«
Ich habe keine Ahnung. Andererseits stehe ich im Basismodus in diesem Lift. Also entgegne ich: »Ich komme klar.« Nach einem kurzen Zögern füge ich hinzu: »Wenn ich weiß, was hier los ist.«
Lisa schaut zum Anzeigetableau, es bleiben nur noch ein paar Stockwerke. Sie blickt zu mir. »Bist du sicher, dass du die Wahrheit wissen willst?«
Was denkt sie von mir? Ja, ich habe mich für einen anderen Weg als sie entschieden, für eine andere Hoffnung. Für die Entfremdung, wie sie und ihre Mitstreiter sagen würden. Doch ein paar Booster machen mich nicht zu einem Ignoranten. Auch wer mit dem Strom schwimmt, kann das mit offenen Augen tun.
Ich schweige.
Nach einem Moment klingen ihre Worte kalt wie aus einem Grab
Ein Pling meldet die Ankunft des Lifts. Die Türen öffnen sich und geben den Blick in den Spiegelsaal des Rats frei. Am runden Konferenztisch sitzen sechs Nichtoptimierte. In der Mitte fluoresziert der Avatar der Obersten Verwaltungs-KI.
»Da bist du ja endlich, Lisa«, tönt die Stimme der KI.
»Es ging nicht schneller.« Sie schreitet um den Tisch und setzt sich in den Sessel, der dem KI-Avatar am nächsten ist. »Ich habe einen Gast mitgebracht. Er möchte auch ins Bild gesetzt werden. Hat jemand Einwände?«
»Er ist ein Optimierter!« Der Mann neben Lisa sagt die Worte, als redete er über eine ansteckende Hautkrankheit. »Was ist, wenn er uns hier umkippt?«
Der KI-Avatar wendet sich mir zu. Über seine Optiksektion huscht ein Lichtstreifen. Er sagt: »Nach meinen Daten gehört er in die Kategorie O-A-1. Er wird erhebliche Entwöhnungsnebenwirkungen haben, aber auch ohne Boostertechnik ist dauerhaft nicht mit lebensbedrohlichen Ausfällen von Körperfunktionen zu rechnen.«
Das beruhigt mich.
»Also, Einwände?«, wiederholt Lisa.
Niemand sagt etwas.
»Dann setz dich.« Lisa zeigt auf den freien Sessel in Liftnähe.
Ich nehme all meine Kraft zusammen und wanke los. Immerhin, es geht besser als vorhin. Die Worte der KI geben mir ein Gefühl der Stärke. Beim Hinsetzen verspüre ich beinahe so etwas wie Schwung.
»Nun«, sagt Lisa und blickt zur KI, »wir erbitten einen Statusbericht.«
Ich wusste, dass Lisa eine wichtige Rolle bei den Nichtoptimierten spielt; ihr Ton der KI gegenüber erstaunt mich dennoch.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, sagt die KI: »Die Energieversorgung ist, wie wir alle wissen, kritisch. Die anhaltende Trockenphase lässt die Wassermühlen stillstehen, die lauen Lüfte bringen kaum Ertrag aus den Windkraftanlagen, der Staub aus den Wüsten setzt den Solarpanels zu. Für die Putzbots der Solaranlagen und die Boostertechnik der Distriktbewohner reicht das Aufkommen nicht.«
»Welche Szenarien gibt es?«, fragt Lisa.
»Der Verbleib aller Optimierten und der Putzkolonne im Notbetrieb. Das würde die Speicher belasten, könnte aber möglicherweise bis zu einem Wetterumschwung reichen.« Der KI-Avatar zögert einen Moment und fährt fort: »Alternativ bliebe die Abschaltung aller Boostertechnik. Dann könnten die Putzbots die Energieversorgung schneller wieder herstellen. Die Verträglichkeit bei den Optimierten der niedrigeren Kategorien wäre für die Übergangszeit allerdings schwer zu prognostizieren.«
Niemand am Tisch sagt etwas. Alle blicken zu Lisa. Sie schaut zum KI-Avatar, ihre Gesichtszüge wirken eingefroren. Nach einem Moment klingen ihre Worte kalt wie aus einem Grab: »Offensichtlich gibt es keine gute Option.« Nachdem alle weiter schweigen, fährt sie fort. »Uns war nicht bewusst, wie ernst die Lage ist. In welchem Szenario ist mit weniger körperlichen Beeinträchtigungen zu rechnen?«
»Das wäre angesichts der vielen unbekannten Variablen reine Spekulation«, entgegnet die KI. Erneut herrscht für einen Moment absolute Stille. Dann spricht der Avatar weiter: »Nach meinen Berechnungen ist das eine Frage von Hoffnungen – und das übersteigt meine Fähigkeiten. Als Oberste Verwaltungs-KI fühle ich mich für derartige Abwägungen nicht zuständig. Dafür habe ich diese Runde einberufen. Es ist Ihre Entscheidung.«
Der König sagt, »macht euren Dreck doch allein«, denke ich und unterdrücke ein Lachen. Denn die Runde verbreitet weiter eine Laune wie auf einer Beerdigung.
Dabei ist das keine – zumindest solange die Hoffnung lebt.

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