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Futur III: Einwände eines Zeitreisenden

An manchen Aufgaben scheitert man, auch wenn man dafür ein Leben lang trainiert hat. Eine Kurzgeschichte von Rahul Kanakia.

Auf den ersten Blick zeigte die Stadt keine Anzeichen von übertriebener Ordnung oder Unordnung. Hier gab es weder eine strenge Monokultur noch einen ungeregelten Schmelztiegel. Die städtischen Ziegelhäuser und neoklassizistischen Verwaltungsgebäude wurden durch eine ansehnliche Vielfalt von Baustilen aufgelockert – darunter einige, die der Zeitreisende aus seiner eigenen Epoche wiedererkannte.

Die Menschen organisierten sich, wie es häufig der Fall ist, in stabil anmutenden Kleinfamilien. Sie bewohnten Eigentumswohnungen und Häuser in Privatbesitz. Allerdings schienen sie keine Geldwirtschaft zu betreiben. Das hatte eine Reihe von Missverständnissen zwischen dem Zeitreisenden und seiner Fremdenführerin zur Folge – einer wortkargen, starr blickenden Gestalt mit gedrungenem Körperbau und fahlem Teint. Einige äußere Merkmale deuteten darauf hin, dass es sich um eine Angehörige des weiblichen Geschlechts handelte.

»Woher kommt die Nahrung?«

»Sie wächst«, antwortete die stoische Führerin.

»Wer erntet sie?«

»Eine Mischung von komplexen multinationalen Konzernen und kleineren, privat geführten Landwirtschaftsbetrieben.«

»Also herrscht bei euch freie Marktwirtschaft.«

»Und Gemeinwirtschaft.«

»Also gut, um die Sache auf den Punkt zu bringen«, sagte der Zeitreisende ungeduldig, »ich interessiere mich vor allem für die tragischen Schwachstellen einer Gesellschaft. Zu diesem Zweck sucht man am besten nach den unteren Schichten. Wie steht es um die Armen? Um die Ungebildeten? Um jene, die kein Kapital besitzen?«

»Bei uns gibt es überhaupt keine Armen. Diejenigen, die Kapital wünschen, bekommen es. Wer Bildung anstrebt, kann sich in einer Schule anmelden.«

»Aber was geschieht mit denen, die gar nicht arbeiten wollen? Ich gebe zu, mir ist diese Ausdrucksweise unangenehm, denn es geht stets um mehr als um die Frage, ob jemand faul ist oder fleißig …«

»Die Menschen müssen nicht arbeiten.«

»Aha, aber woher bekommen sie dann ihre Nahrung? Ihre Unterkunft? Ihr …«

»Sie produzieren das.«

»Aber … Wir sprechen doch gerade über die Menschen, die nicht arbeiten wollen …«

Die stoische Führerin zuckte mit den Achseln und setzte das Veloziped in Bewegung. Obwohl das Fahrzeug über ein Lenkrad verfügte, machte die Führerin keinen sichtbaren Gebrauch davon. Das Vehikel steuerte sich selbst; es ordnete sich in den fließenden Verkehr ein und passte sich geschmeidig dem Tempo der anderen Fahrzeuge an. Dennoch weigerte sich die Führerin, während der Fahrt zu sprechen oder auch nur die Anwesenheit des Zeitreisenden zur Kenntnis zu nehmen.

Schweigsamkeit war eine allgegenwärtige Eigenschaft dieser Epoche. Überall auf seiner Reise begegnete dem Besucher Stillschweigen. Die Angestellten saßen stumm und ohne zu blinzeln vor Computerbildschirmen, auf denen ganz von selbst Worte erschienen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter trugen zwar Schutzhelm und Latzhose, standen jedoch nur da und beobachteten, wie Baumaschinen auf einem leeren Grundstück ein Haus errichteten. Die Kinder hielten kleine Apparate in der Hand, während rund um sie Spielzeugraumschiffe schwirrten und jaulten.

»Was treiben die Kinder da? Steuern sie das Spiel mit ihrem Geist?«

»Nein«, versetzte die Führerin. »Natürlich benutzen sie die Hände. Sind Sie nicht vertraut mit elektronischen Spielen?«

»Aber ihre Finger bewegen sich nicht.«

»Nun ja, der Computer übernimmt den Großteil der Arbeit.«

Wo auch immer der Zeitreisende sich umsah, überall schien diese Gesellschaft aus Schlafwandlern zu bestehen. Die Maschinen erledigten die Arbeit, und die Menschen sahen ihnen dabei zu. Der Zeitreisende verstand nicht, was da vorging. Wenn die Systeme vollautomatisch funktionierten, warum spazierten die Menschen dann nicht einfach davon und machten es sich in wunderschönen Lustgärten bequem, während die Maschinen an ihrer Stelle rackerten? Gewiss, das würde am Ende zwangsläufig dazu führen, dass sich der menschliche Zusammenhalt in einem Dunst von sinnlosem Hedonismus auflöste – doch das bisher gesammelte Wissen über die Zukunft deutete nun einmal darauf hin, dass die Menschheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die eine oder andere Weise untergehen würde.

Das entscheidende Aha-Erlebnis hatte der Zeitreisende während einer langen Fahrt durch die Wüste über einen vor Hitze flimmernden Highway: Plötzlich bemerkte er, wie die Hand der stoischen Reiseführerin für einen kurzen Moment das Lenkrad berührte.

»Warum haben Sie das gemacht?«, rief der Reisende.

»Ein kleines Tier lief über die Straße. Man soll seltene Wüstentiere nicht überfahren.«

»Das heißt, in Wahrheit kontrollieren letztlich Sie die Maschine?«

»Selbstverständlich.«

Durch weiteres Nachfragen erhärtete der Zeitreisende seine Hypothese: In dieser Gesellschaft hatte die künstliche Intelligenz ein hohes, aber noch immer subhumanes Niveau erreicht. Obwohl die Maschinerie praktisch autonom agierte, wurde das menschliche Gehirn weiterhin benötigt, um etwaige Fehler zu registrieren und zu korrigieren. Aktive Interventionen kamen selten vor, doch alle Systeme erforderten ständige Überwachung, denn jede mögliche Fehlfunktion konnte katastrophale Folgen haben. Im Lauf vieler Generationen hatte die natürliche und soziale Selektion ihre Wirkung getan. Menschen, die sich als unfähig erwiesen, ihre permanente und ungeteilte Aufmerksamkeit einer Maschine zu widmen, waren für den Arbeitsvorgang nicht zu gebrauchen. Zumindest wurden sie unfähig, die zum Überleben nötigen Ressourcen zu produzieren. Im Ergebnis entstand eine einfallslose, gedankenarme Gesellschaft, in der die Menschen nichts weiter waren als Rädchen in der Maschine.

Also wiederum nur eine dystopische Zukunft, ein weiteres technologisches Szenario, das verrücktspielte … Der Zeitreisende begab sich zurück in seine Heimatepoche und schrieb einen kurzen Bericht über seinen Besuch im Jahr 2203.

*

In der Zukunft, die er verlassen hatte, fand eine Gruppe von Ausgrabungsmaschinen schließlich eine Kopie des vom Zeitreisenden verfassten Dokuments und brachte es der stoischen Fremdenführerin zur Kenntnis.

Sie erkannte auf den ersten Blick im Bericht des Zeitreisenden mehrere Verständnisfehler, doch ihr wurde beim Lesen klar, dass die Schönheit ihrer Gesellschaft für jemanden mit dem fragmentarischen Bewusstsein des Besuchers kaum zu begreifen war. Die Führerin machte sich schwere Vorwürfe: Sie hatte es versäumt, dem Reisenden die Ekstase zu vermitteln, die ihre Zeitgenossen beim Beobachten, beim Warten und Überwachen einer Maschine empfanden; den fast körperlichen Schmerz, den ihnen das Echtzeit-Geschnatter von Kommunikation und Konversation bereitete – und vor allem, dass ihre Gesellschaft keineswegs ein Beispiel für den Untergang der Menschheit abgab, sondern vielmehr deren strahlende Apotheose darstellte.

Es bekümmerte die Führerin zutiefst, dass sie ausgerechnet an der Aufgabe, für die man sie ein Leben lang trainiert hatte, so fundamental gescheitert war. Aber ihr blieb keine Wahl: Sie musste sich selbst verzeihen und wieder ihren Posten im Zentrum der Sensorstationen einnehmen. Durch den konzentrierten Einsatz neuronaler Netze waren die Menschen immer besser in der Lage, temporale Anomalien zu verhindern – doch hin und wieder flutschte ihnen trotzdem noch ein Reisender durch und brachte den ganzen Betrieb durcheinander.

Es war noch zu früh, um einzuschätzen, welche Folgen der negative Bericht des Zeitreisenden haben würde. Vielleicht war sein Report ignoriert worden. Vielleicht hatten die Zeitgenossen ihn nicht verstanden. Oder vielleicht sorgten die – noch immer weitgehend unbekannten – Mechanismen der Zeitreise dafür, dass jeder Bericht aus der Zukunft zur Folgenlosigkeit verdammt war. Vielleicht würde der Fehler, den die stoische Fremdenführerin begangen hatte, kein Unheil heraufbeschwören und nicht die Existenz von allem, was ihr lieb und teuer war, gefährden. So oder so, ihr blieb nichts übrig, als Ruhe zu bewahren und abzuwarten.

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