Futur III: Flare
32 Erdenjahre ist es jetzt schon her, dass mein Großvater starb. Er war an diesem Tag geistig vollkommen klar, auch wenn mein Vater das zeit seines Lebens bestritten hat. Doch ich weiß es, denn ich war dabei.
Ich kann nur spekulieren, warum mein Vater etwas anderes behauptet hatte; später hat er darüber nie gesprochen. Vielleicht schwieg er, weil Großvaters Tod als Selbstmord hätte eingestuft werden können – und das zu einer Zeit, als die Regierung und die Kirche alles taten, um die Welle der Selbsttötungen unter der ersten Generation der Siedler einzudämmen. Großvater hätte nicht auf dem Friedhof beerdigt werden dürfen, und uns, seiner Familie, wäre für ein Erdenjahr das Betreten der Kirche verwehrt worden, was damals eine öffentliche Demütigung bedeutete. Inzwischen ist die Macht der Kirche weitgehend gebrochen, aber mein Vater erlaubte mir nicht, seine Version richtigzustellen. Vorgestern haben wir auch ihn zu Grabe getragen, und deshalb schreibe ich jetzt die wahre Geschichte auf.
Großvater lebte damals noch immer am Rand des großen Ozeans, knapp oberhalb der Flutlinie, wo die ersten Siedler nach Ankunft der riesigen Raumschiffe ihre provisorischen Häuser gebaut hatten. Nachdem Großmutter gestorben war, sollte er eigentlich zu uns ziehen, aber er fand immer wieder Ausflüchte. So blieb uns nichts anderes übrig, als ihn regelmäßig zu besuchen, denn er bewältigte seinen Alltag nur noch mühsam und manchmal überhaupt nicht mehr. Er, der einst als zweiter Ingenieur des dritten Auswandererschiffs gedient hatte, litt darunter selbst am meisten. Vielleicht blieb er hauptsächlich deshalb in seinem zerfallenden Haus, weil er sich beweisen wollte, dass er immer noch allein zurechtkam.
Seine Enkel zu sehen, munterte ihn auf, und so nahm mein Vater uns Kinder abwechselnd mit, immer zwei auf einmal. Trotzdem wirkte Großvater oft wortkarg und abwesend. Als Großmutter noch lebte, erzählte sie uns Geschichten von der alten Erde und den Erlebnissen auf der Reise. Ganze 365 Tage habe dort ein Jahr! Hier auf Empress sind es elf Erdentage, und von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang vergehen zwei unserer Jahre. An sonnigen Tagen sei der Himmel auf der Erde immer strahlend blau, erklärte sie uns, und die Sonnenflares seien dort so winzig, dass man sie nicht mal sehen könne. Wie langweilig, dachten wir dann heimlich. Großmutter erzählte auch von den Wüsten auf der Erde, großen trockenen Gebieten, die wir auf unserer Wasserwelt mit ihren schmalen Girlanden vulkanischer Inseln nicht kennen. Auf Empress haben die Tiere das Land noch nicht besiedelt, es gibt hier nur Pflanzen. Deshalb staunten wir immer, wenn Großmutter von Spinnen und Schlangen und Elefanten erzählte.
Manchmal liefen ihre Augen über und es brach aus ihr heraus:
»Proxima b sei fast wie die Erde, haben sie uns gesagt. Stimmt ja auch – fast. Etwas zu viel CO2, etwas zu viel CO. Dabei können wir es draußen ohne Absorbermaske gar nicht aushalten! Und die Flares seien etwas stärker als erwartet. Doch schon die kleinen verbrennen uns, die großen bringen uns um!«
Aber sofort darauf pflegte sie uns anzustrahlen und setzte hinzu:
»Und deshalb freue ich mich immer so, euch zu sehen. Weil das alles für euch kein Problem ist.«
Es störte uns nicht, dass Großvater und Großmutter etwas seltsam aussahen. Ihnen fehlten die silbrigen Hautschuppen, die uns gegen die Strahlungsausbrüche der Flares schützen, und so waren ihre Gesichter und Arme rosig bis braun. Sie rochen seltsam, weil ihre Haut nicht wie unsere das Fett bilden konnte, das die Schuppen geschmeidig hält. Statt unseres dichten, kurzen Fells hatten sie lange dünne weiße Haare auf dem Kopf. Die ersten Siedler, erklärte uns unsere Mutter, die als Chefärztin des Krankenhauses arbeitete, hätten eine riesige Datenbank möglicher genetischer Korrekturen mitgenommen, damit sie ihre Nachkommen an die Verhältnisse hier auf Empress anpassen konnten. Nicht der Planet sollte der Erde nachgebildet werden, sondern die Menschen sollten sich in die neue Welt einfügen.
Nicht der Planet sollte der Erde nachgebildet werden, sondern die Menschen sollten sich in die neue Welt einfügen
An Großvaters letztem Tag gab das Solarwetteramt eine Warnung vor einem großen Flare heraus. Wir waren begeistert! Für uns gab nichts Schöneres, als einen Flare am Strand zu erleben.
Großvater ging es an diesem Tag ungewöhnlich gut. An seinen schlechten Tagen glaubte er manchmal, er wäre noch auf der Erde. Das war dann schon etwas unheimlich.
»Mein Gott, was ist die Sonne groß, wenn sie so tief steht«, sagte er einmal zu Vater. »Sie bewegt sich nicht, und der Himmel ist schwarz. Siehst du die beiden seltsamen neuen Sterne dort? Sie sind heller als die Venus. Chris, ich sage dir, das ist ein böses Omen, ein schlimmes Zeichen kommenden Unheils.«
Wie alle Siedler glaubte er an Gottes Vorsehung. Die evangelikalen Kirchen hatten schließlich die Raumschiffe finanziert. Nur wer im Glauben gefestigt war, durfte die Reise antreten – heute ist das schon fast vergessen. Vater hätte ihm sagen können, dass die beiden hellen Sterne Alpha Centauri A und B sind. Empress drängt sich so eng an unsere trübe Sonne Proxima Centauri, dass sie dreimal so groß erscheint wie die irdische. Und weil sie außer bei großen Flares kaum blaues Licht ausstrahlt, ist unser Himmel tagsüber fast schwarz. Aber das hätte Großvater nur noch mehr verwirrt, und so schwieg mein Vater.
Zur Freude meiner Schwester und mir begann der Flare direkt nach unserer Ankunft. »Dürfen wir an den Strand zu den anderen?«
»Lauft!«, antwortete mein Vater lächelnd.
Wir rannten los. Die Lücken zwischen den Wolken flammten plötzlich auf. Dann ließ die vervielfachte Kraft unseres Heimatsterns die Wolkendecke aufreißen und eine große, weiß strahlende Sonne erschien an einem unwirklich blauen Himmel. Die Bäume und Sträucher, sonst von einem stumpfen Grün, begannen blau, gelb und purpurn zu leuchten. »Fluoreszenz« hieß das, hatte uns die Lehrerin erklärt. Wir zogen uns aus und stürzten uns ins Meer. Das war eigentlich ziemlich gefährlich, aber bei einem Flare ziehen sich die stechenden Gitterfische vom Ufer zurück; und selbst die schmerzhaften Kugelquallen fliehen vor der Strahlung ins tiefe Wasser. Das Meerwasser, sonst trüb und bräunlich, wird plötzlich klar, weil sich die Algen zu Klumpen zusammenballen und auf den Grund sinken. Die kurzen Wellen zaubern dann weiße Streifenmuster auf den steinigen Boden.
Wir blieben in Strandnähe, denn weiter draußen brodelte das Meer. Dort stiegen die Tentakelschnecken, die Seeskorpione und die Raubschläuche mit ihren Raspelmäulern aus der Tiefe auf, um die Flachwassertiere zu fangen, die dem Flare entkommen wollten. Die Sonne brannte herunter und die Luft wurde plötzlich heiß. Aber wir schwammen schon im Wasser und genossen die Wärme auf dem Rücken, während das Meer uns von unten kühlte. Dann drehten wir uns, so dass auch Brust und Bauch die Wärme spürten.
Wir ahnten schon, wie Mutter schimpfen würde, weil unsere Haut sich nach der heftigen Strahlung schnell erneuerte und unsere Kleider tagelang voller alter grauer Schuppen steckten: »Jetzt muss ich eure Betten neu beziehen, Schuppenbäder für euch einlassen und euch ständig einölen. Wisst ihr eigentlich, was Schuppenöl kostet?«
Mutter meinte es nicht so, sie sah uns gerne glücklich. Und vier Schlafperioden nach dem Flare schimmerten die neuen Schuppen dann in einem wunderschönen Silber, und das Schuppenöl roch so gut. Für uns war Empress die schönste Welt, die es geben konnte. »Answer to our prayers« hatten die ersten Siedler den neuen Planeten genannt. Ihre Nachfahren verkürzten es zu Anprays, und wir machten Empress daraus, die Herrscherin.
Nach 20 Minuten war der Flare vorbei, die Normalität kehrte zurück, die Aufsicht scheuchte uns aus dem Wasser, und wir trockneten uns ab, erschöpft und selig.
Als wir zu Großvaters Haus zurückkehrten, sahen wir ihn dort stehen, neben einem Rollwedelbaum mit einem Lachen im Gesicht.
»Ich habe euch beide beobachtet, und es ist schön, euch so fröhlich zu sehen.«
»Aber Grandpa«, erwiderte ich erschreckt, »warst du die ganze Zeit hier? Du verträgst doch keinen Flare! Die Strahlung verbrennt dich!«
Ich war verwirrt, denn er stand einfach da und sah unverändert aus. Er trug nicht einmal seine Atemmaske.
»Ach«, sagte er, »wisst ihr, einmal wird es schon gehen.«
Da sah ich meinen Vater heraneilen. Und sein Gesicht verhieß nichts Gutes.
»Pa, was machst du denn? Ich habe dich im ganzen Haus gesucht. Warst du etwa die ganze Zeit hier draußen?«
»Die ganze Zeit«, bestätigte Großvater mit einer seltsam entrückten Heiterkeit.
Vater sah uns an, mit diesem Blick, der klarmachte, dass er jetzt nicht diskutieren würde.
»Ihr nehmt eure Räder und fahrt nach Hause. Gleich. Ich rufe Mutter an. Habt ihr verstanden?«
Ich nickte, meine Schwester verzog ihr Gesicht, als wolle sie gleich weinen. »Jetzt fahrt!«
Die Räder lehnten an der Hauswand, so dass wir dort außer Sicht waren. Ich blieb noch einen Moment zum Lauschen und hörte meinen Vater sagen:
»Pa, bist du denn wahnsinnig? Das wird dein Tod sein!«
Großvater antwortete: »Sieh mal, Chris, 17 Jahre haben wir im Raumschiff verbracht, in einer Atmosphäre, die nach Metall, Öl und Plastik stank. 17 Jahre ohne Sonne, ohne Strand, ohne Bäume, ohne Blüten. Und nachdem wir gelandet waren, durften wir die Luft nicht ohne Maske atmen und mussten uns ständig vor den Flares verkriechen. Im Grunde waren wir weiter eingesperrt.«
Ja, an diesem Tag war Großvater so klar wie seit Langem nicht mehr. Ich blieb noch einen Moment und streckte vorsichtig den Kopf um die Ecke.
Großvater stützte sich auf meinen Vater.
»Hilf mir ins Haus, Chris, es wird nicht lange dauern. Und nein, ich bin nicht verrückt und ich habe mich nicht verlaufen. Ich wollte nur einmal die Kinder im Flare spielen sehen. Nur ein einziges Mal, bevor ich sterbe, wollte ich das Gefühl haben, wirklich angekommen zu sein.«
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