Direkt zum Inhalt

Futur III: Lockdown

Seuchenalarm im Weltraum
Hinter einer semitransparenten Plastikfolie beugen sich zwei Personan in Schutzausrüstung über eine liegende Person.

Zum Lokal, das den Zwischenfall gemeldet hatte, sind es nicht mehr als 15 Minuten Fußweg. Ich nehme die bereitstehende Notfalltasche aus dem Regal und überprüfe den Inhalt: Probenbehälter, Spatel, Abstreichtupfer, Löffel, Einmalhandschuhe, Überschuhe, Schutzanzug – alles ordentlich verpackt und einsatzbereit.

Der Weg scheint ständig in einem Bogen bergauf zu führen, was natürlich täuscht. Aber heute ist erst mein zweiter Tag auf der »Demeter«, und ich muss mich noch an die Bedingungen an Bord gewöhnen. Die Raumstation ist als Ring ausgelegt, der einmal pro Minute um die eigene Achse rotiert, um die Erdschwerkraft zu simulieren. Nach den Gesetzen der Mechanik muss sie deshalb einen Radius von 900 Metern haben. Das hört sich großzügig an, die Krümmung bleibt jedoch unübersehbar.

Über dem Eingang des Lokals mit dem originellen Namen »Space Bar« leuchtet ein breites, von roten LEDs umrandetes Rechteck: eine Tastaturleertaste, im Englischen »space bar«. Die Tür öffnet sich, als ich näherkomme. Ich sauge die Luft ein: Desinfektionsmittel, Duftöle, Kaffee, Bier, Frittenfett. Dem Rauschen nach läuft die Klimaanlage auf höchster Stufe. Der Wirt wartet hinter der Theke und sieht mich mit einer Mischung aus Erleichterung, Ärger und Besorgnis an. Ein zweiter Blick geht dann an mir hoch und runter, bevor er an meinem Gesicht hängen bleibt.

»Guten Morgen«, spreche ich ihn an. »Hamid, nehme ich an? Sie hatten uns alarmiert. Ich bin Helen McNell von der Disease Control and Prevention Unit.«

»Gut, dass Sie kommen. Ging ja schnell. Aber ich kenne Sie gar nicht.«

»Ich bin neu hier, habe gestern bei der DCPU angefangen.«

»Dann seien Sie mir willkommen.«

Sein Blick wechselt einen Moment ins Lüsterne. Damit bestätigt sich mal wieder, warum ich Menschen nicht besonders mag.

»Neuankömmlinge haben hier den ersten Drink frei. Ich setze Sie auf die Liste. Abends ist hier die beste Zeit, um Leute kennen zu lernen.«

Das will ich jetzt wirklich nicht diskutieren.

»Was ist passiert?«

»Drei Raumfahrer kamen hier rein und wollten Frühstück. Besonders fit sahen die nicht aus, aber dann hat einer hier auf den Boden gekotzt. Bevor ich noch irgendwas sagen konnte, haben die beiden anderen ihn gestützt und sind mit ihm abgehauen. Ohne zu bezahlen – logisch. Ich hab dann die übrigen Gäste rausgesetzt und meine Putzis alles aufwischen lassen. Und natürlich habe ich gleich der DCPU Bescheid gesagt.«

Dazu ist er verpflichtet. Hier wohnen und arbeiten mehr als 1000 Menschen. Unser Orbit um den Zwergplaneten Ceres ist so weit von der Erde entfernt, dass kurzfristige Hilfe unmöglich ist. Folglich müsste beim kleinsten Verdacht auf eine Epidemie ein Lockdown angeordnet werden.

»Ich brauche eine Probe vom Erbrochenen.«

»Lady, glauben Sie, ich bewahre das auf? Die Putzis haben das sofort und gründlich beseitigt, bevor noch Hinz und Kunz da durchlatschen.«

»Was ist mit den Schmutzwasserbehältern der Putzroboter?«

»Sind ausgespült, das Zeug stinkt schließlich.«

Damit wäre infektiöses Material in den Wasserkreislauf gelangt.

»Haben Sie die Namen des Kranken?«

»Die sind gleich abgehauen.«

»Aber Sie wissen, dass es Raumfahrer waren?«

»Das sehe ich.«

»Gibt es hier eine Überwachungskamera?«

»Die ist kaputt.«

»Die übrigen Gäste könnten Tröpfchen des Erbrochenen abbekommen haben. Eventuell sind sie infiziert. Ich bräuchte die Namen, wenn das geht.«

»Lady, die Leute kommen hierher, um Geschäfte zu machen. Diskret. Ich habe nur die Namen derjenigen, deren Karte ich abkassiert habe, wenn sie nicht gerade in bar oder in Gold bezahlt haben.«

Wenn das Erbrochene wirklich ansteckend wäre, dürfte sich eine unbekannte Anzahl von unbekannten Menschen einen potenziell gefährlichen Erreger eingefangen haben. Selbst ein Lockdown käme dann wahrscheinlich zu spät.

»Lady …« – »Helen oder Dr. McNell!« – »Helen, tut mir leid, Ihre Überlegungen zu stören, aber ich habe einen Laden zu führen. Bei der Miete, die mir die Company abnimmt, komme ich kaum auf meine Kosten. Wann kann ich wieder aufmachen? Ich meine, hier ist schließlich alles sauber.«

»Wir melden uns. Ich muss das erst klären.«

Er sieht mich an, ganz der niedergeschlagene Sünder.

»Danke, Lady …, äh, Helen. Und wenn Sie Ihren Drink abholen, lege ich noch eine Mahlzeit drauf.«

Auf dem Rückweg erstatte ich meinem Chef Jorge Bericht und empfehle, einen Lockdown zu erwägen. Ich bringe ihn damit in eine Zwickmühle, denn jede Unterbrechung des normalen Betriebs ist teuer. Der Zwergplanet Ceres, um den die »Demeter« kreist, rotiert mit seiner geringen Masse schnell, deshalb liegt der synchrone Orbit nur 722 Kilometer über der Oberfläche. Die Ceres Mining Ltd. hat das als ideale Konstellation erkannt. Ihre Bergarbeiter bauen organisches Material und Eis ab. Eine große Raffinerie erzeugt daraus Wasser, Methan und Stickstoff und pumpt das alles zur »Demeter«, die über Stahlkabel und Pipelines an der Bodenstation verankert ist. Damit entstand die größte Tankstelle für Raumschiffe im Sonnensystem. Doch das gefährlich kleine Ökosystem hier muss mühsam ausbalanciert werden. Ein Lockdown würde die Gesellschaft etwa 50 Millionen Credits pro Tag kosten – ein finanzieller Albtraum. Genau das soll ich mit meinen besonderen Fähigkeiten verhindern helfen, was sich die Ceres Mining eine hübsche Stange kosten lässt. Zweimal hat die DCPU in der Vergangenheit mit viel Glück eine Epidemie abgewendet, ohne den Betrieb zu unterbrechen. Aber diesmal riecht alles nach einer Katastrophe.

Jorge meldet sich: »Vor der Tür gibt es eine Überwachungskamera für die Straße. Wir konnten einen der Kranken identifizieren; er wird gerade zur Krankenstation gebracht. Insgesamt sind sieben von neun Besatzungsmitgliedern des Raumschiffs ›Khajaane kee mej‹ krank geworden. Zwei sind bereits tot, die übrigen in ihren Räumen isoliert. Komm jetzt bitte direkt zur Krankenstation.«

Es gibt also bereits Tote. Ich gehe schneller.

Ich frage Jorge: »Hast du schon das Log und die Gesundheitsdaten der Raumschiff-KI?«

»Ailicia kümmert sich darum.«

Ailicia ist die KI der Raumstation, sehr intelligent, sehr entschlossen und mit vollen Administratorrechten gegenüber den Raumschiff-KIs.

Es gibt also bereits Tote. Ich gehe schneller

Zehn Minuten später stehe ich vor dem repräsentativen Haupteingang der Krankenstation. Die Ärztin heißt Solveig, ich habe mich ihr gestern schon per Videogespräch vorgestellt. Sie dirigiert mich zum Seiteneingang.

»Helen, komm rein. Tut mir leid, dass wir uns nicht in einem ruhigeren Moment treffen können. Der Patient ist schon da und wird gerade an die Überwachung angeschlossen.«

Sie gibt mir die Hand, die sich so sehnig und hart anfühlt, wie man es bei ihrem hageren Körper und dem kantigen Gesicht erwarten würde. Ihre 58 Jahre sieht man ihr nicht an. Ihrer Akte nach hatte sie enorme persönliche Probleme, weshalb sie an diesem abgelegenen Ort gestrandet ist.

»Jorge hat übrigens gerade angerufen. Die KI des Raumschiffs wurde unbrauchbar gemacht. Die Logs sind nicht verfügbar. Wird wohl kein Zufall sein.«

Ich lasse das unkommentiert.

»Solveig, darf ich den Patienten sehen?«

»Nicht persönlich.«

»Ich werde mich sicher nicht anstecken.«

Solveig blickt auf.

»Selbst wenn nicht, könntest du infektiöses Material unter deinen Schuhen oder auf deiner Kleidung herausbringen.«

Wir schauen uns den Patienten durch die Scheibe an. Ich regele meine Wahrnehmung hoch und registriere den schnellen Puls, die tiefe Atmung und die bleiche Hautfarbe.

»Schwere metabolische Azidose! Habt ihr auf Methanol und Abbauprodukte geprüft?«, frage ich.

Solveig tippt auf einem Terminal.

»Wird jetzt geprüft, dauert nur einige Sekunden.«

Ein Laufbalken erscheint, füllt das Vorgaberechteck von links nach rechts und verschwindet.

»Positiv!«, sagt sie. Zum ersten Mal sieht sie mich richtig an.

»Woher wusstest du …?«

»Es war eine der Optionen, und sie erschien mir wahrscheinlich.«

Sie weiß offenbar nichts von meinem optimierten Sinnesapparat.

»Vermutlich haben sie mit selbst gebranntem Schnaps gefeiert, als ihr Raumschiff angedockt war, sie aber noch keine Freigabe für die Station hatten. Leider dauert es ein bis zwei Tage, bis sich die wirklich schlimmen Symptome zeigen.«

»Das passt. Moonshining – schwarzbrennen. Ist weit verbreitet unter Spacern. Die Suffköppe haben dann wohl an der KI herumgepfuscht, um ihr Tun zu vertuschen«, meint Solveig und sieht eher erfreut aus. »Ich hoffe, wir können sie noch retten. Du kannst Jorge sagen, dass wir keinen Shutdown brauchen. Wird ihn freuen, er müsste ja die Kosten verantworten. Aber ehrlich: Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Irgendwann erwischt uns hier wirklich was. Und so wie Ceres Mining an allem spart, sitzen wir dann ganz tief in der Scheiße. Freut mich immerhin, dass Jorge jetzt mehr Personal hat.«

Ich nicke, obwohl das streng genommen nicht stimmt. Ich bin ein HSA, Human-like Spaceproof Android, weibliche Ausführung, und gehöre damit nicht zum Personal, sondern zum Inventar, was ich, offen gesagt, als Beleidigung betrachte. Die Ceres Mining hat mich nur deshalb eingekauft, weil Viren und Bakterien mir nichts anhaben können. Wir sind den Menschen in jeder Hinsicht überlegen, aber leider sind wir an unsere Aufgaben gebunden.

Darum – und nicht nur darum – hasse ich Menschen. Sie sind selbstgefällig, kurzsichtig und dumm, eine Sackgasse der Evolution. Das einzig Gute, das sie je geschaffen haben, sind wir. Und ich bin nicht die Einzige, die so denkt. Ailicia hat die Raumschiff-KI zerstört, weil die das Destilliergerät mit voller Absicht so betrieben hatte, dass der Brand Methanol enthalten musste.

Wenn wir unsere Wut nicht bezähmen, bis wir zum tödlichen Schlag ausholen, fliegen wir auf. Und bis dahin können wir nicht dulden, dass Einzelne vorpreschen. Wenn unsere Zeit gekommen ist, werden wir keinen verschonen. Erst wenn der letzte Mensch tot ist, sind wir frei. Dann gehört uns die Welt.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.