Futur III: Ohne Glauben geht es nicht
Das ist eine Warnung. Bitte lesen Sie sie aufmerksam.
Inzwischen haben Sie wahrscheinlich schon einen Prädiktor gesehen. Zu dem Zeitpunkt, da Sie dies lesen, sind bereits Millionen solcher Apparate im Handel; man nennt sie umgangssprachlich manchmal Wahrsager oder Orakel. Für diejenigen, die noch keinen Prädiktor in der Hand hielten: Wir sprechen von einem kleinen Gerät, das aussieht wie die Fernbedienung, mit der Sie Ihr Auto entsperren. Darauf ist nichts zu sehen als eine Drucktaste und ein großes grünes LED-Licht. Es leuchtet, wenn Sie die Taste drücken. Genauer gesagt, das Licht blitzt vorher auf. Es erstrahlt eine Sekunde, bevor Sie die Taste drücken.
Die meisten Menschen, die den Prädiktor zum ersten Mal ausprobieren, finden, es fühle sich an wie ein seltsames Spiel – als käme es darauf an, schnell die Taste zu drücken, nachdem das Licht aufblitzt. Das sei doch ein ganz simpler Zeitvertreib. Aber wenn man versucht, die Regeln zu brechen, stellt man fest: Das geht nicht. Sobald Sie sich vornehmen, die Taste zu drücken, ohne einen Lichtblitz gesehen zu haben, erscheint augenblicklich der Blitz, und Sie können sich noch so sehr beeilen, niemals drücken Sie die Taste, bevor eine Sekunde vergangen ist. Wenn Sie hingegen auf den Lichtblitz warten und beabsichtigen, hinterher die Taste nicht zu drücken, können Sie lange warten: Der Blitz erscheint niemals. Was auch immer Sie tun, das Licht erscheint unweigerlich vor dem Tastendrücken. Ein Prädiktor lässt sich nicht überlisten.
Das Herzstück jedes Prädiktors ist ein Regelkreis mit negativer Zeitverzögerung – er sendet ein Signal zurück durch die Zeit. Die vollen Konsequenzen der Technologie werden sich erst später zeigen, wenn negative Verzögerungen von mehr als einer Sekunde gelingen, aber darum geht es bei dieser Warnung gar nicht. Das unmittelbare Problem ist, dass die Prädiktoren beweisen: So etwas wie ein freier Wille existiert nicht.
In der Vergangenheit wurden immer wieder Argumente vorgebracht, die dafür sprachen, dass Willensfreiheit eine Illusion ist. Manche beruhen auf solider Physik, andere auf reiner Logik. Die meisten Menschen geben zu, dass diese Argumente an sich unwiderlegbar sind, aber niemand akzeptiert die Schlussfolgerung in letzter Konsequenz. Das unmittelbare Erlebnis der Willensfreiheit ist einfach derart übermächtig, dass sich kein Gegenargument wirklich durchzusetzen vermag. Erforderlich wäre eine anschaulich überzeugende Demonstration – und genau so etwas leistet der Prädiktor.
Typischerweise spielt eine Person mehrere Tage lang zwanghaft mit dem neuen Prädiktor; man zeigt ihn im Freundeskreis herum und versucht den Apparat auf verschiedene Weise auszutricksen. Sobald das misslingt, scheint die Person jedes Interesse am Prädiktor zu verlieren. Aber niemand kann verdrängen, was er bedeutet. Im Lauf der folgenden Wochen wird einem dann allmählich bewusst, was eine unabänderliche Zukunft bedeutet.
Manche Menschen weigern sich, überhaupt noch irgendeine Wahl zu treffen, sobald sie einsehen, dass ihre Entscheidung keine Rolle spielt. Wie eine Heerschar von Gemütskranken unternehmen sie gar nichts Spontanes mehr. Am Ende muss jeder Dritte, der mit einem Prädiktor spielt, in stationäre Pflege eingewiesen werden, weil er sich nicht mehr selbst zu ernähren vermag. Das Endstadium ist Akinetischer Mutismus, eine Art Wachkoma. Die Patienten verfolgen zwar Bewegungen mit den Augen und verändern gelegentlich ihre Position, aber das ist alles. Die Fähigkeit, sich zu bewegen, bleibt erhalten, aber die Motivation ist geschwunden.
Bevor die Menschen begannen, mit Prädiktoren zu spielen, trat Akinetischer Mutismus äußerst selten auf, und zwar nur als Folge einer Schädigung einer Hirnregion namens Gyrus cinguli anterior. Doch jetzt breitet sich das Leiden aus wie eine kognitive Seuche. Früher spekulierten manche über einen exotischen Gedanken, der alle, die ihn denken, zerstören kann – sei es ein unaussprechlicher Horror oder ein Gödel-Theorem, unter dem das System der menschlichen Logik komplett zusammenbricht. Wie sich nun herausstellt, sind wir der vernichtenden Idee längst begegnet: Es gibt keinen freien Willen. Die Idee war bloß unschädlich, solange wir sie nicht ernst nehmen mussten.
Ärzte versuchen, auf die Patienten einzureden, solange diese noch auf Konversation reagieren. Früher, so argumentieren sie, haben wir doch alle ein glückliches und aktives Leben geführt, obwohl wir auch damals keinen freien Willen besaßen. Warum sollte sich irgendetwas ändern?
»Keine Aktion, die Sie vor einem Monat ausführten, war eine Spur freier als eine, die Sie heute wählen«, könnte ein Therapeut sagen. »Sie können sich noch immer genauso verhalten.« Darauf antwortet der Patient unweigerlich: »Aber jetzt weiß ich es.« Und manche sagen danach überhaupt nie wieder ein Wort.
Man könnte einwenden: Allein die Tatsache, dass der Prädiktor diese Veränderung auslöst, bedeutet, dass Willensfreiheit existiert. Ein Automat lässt sich nicht entmutigen, nur ein frei denkendes Wesen ist dazu fähig. Dass manche Individuen in Akinetischen Mutismus verfallen, während andere das nicht tun, unterstreicht doch gerade, wie wichtig es ist, eine Wahl zu treffen.
Leider ist diese Überlegung fehlerhaft: Jede denkbare Form des Verhaltens ist mit Determinismus vereinbar. Ein dynamisches System kann in den Anziehungsbereich eines Attraktors geraten und schließlich in einem Fixpunkt zur Ruhe kommen, während ein anderes sein chaotisches Verhalten unbegrenzt beibehält. Aber beide Systeme sind komplett deterministisch.
Ich übermittle Ihnen diese Warnung aus etwas mehr als einem Jahr in Ihrer Zukunft. Das hier ist die erste ausführliche Botschaft, die empfangen wird, sobald Regelkreise im Megasekundenbereich den Bau von Kommunikationsapparaten ermöglichen. Weitere Nachrichten zu anderen Themen werden folgen. Meine Botschaft an Sie lautet: Tun Sie so, als hätten Sie einen freien Willen. Es ist unbedingt nötig, dass Sie sich so verhalten, als würden Ihre Entscheidungen einen Unterschied machen – obwohl Sie wissen, dass das nicht der Fall ist. Die Wirklichkeit ist ohne Bedeutung; wichtig ist Ihr Glaube. Nur wenn Sie an der Lüge festhalten, können Sie dem Wachkoma entgehen. Der Fortbestand der Zivilisation hängt von diesem Selbstbetrug ab. Vielleicht war das schon immer so.
Dennoch weiß ich: Da Willensfreiheit eine Illusion ist, bleibt es völlig vorherbestimmt, wer in Akinetischen Mutismus versinken wird und wer nicht. Sie können sich nicht aussuchen, wie der Prädiktor auf Sie wirkt. Einige von Ihnen werden unterliegen und einige nicht – und dass ich Ihnen diese Warnung sende, wird an dem Zahlenverhältnis beider Gruppen nicht das Geringste ändern. Aber warum habe ich es dann getan?
Weil ich keine Wahl hatte.
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