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Futur III: Surprise! Surprise!

Zur Entspannung ein ganz besonderes Puzzle.
Puzzle

Das Paket lag vor der Wohnungstür. Endlich! Zwei Monate hatte Tina darauf gewartet. Vorsichtig hob sie es von der Türmatte und presste es an die Brust.

»Ich freu mich«, flüsterte sie und hüpfte glücklich auf der abgewetzten Kokosfußmatte herum.

»Schön für dich.« Ihr Nachbar, der Hausmeister, trug zwei Bierkästen, sein strähniges Haar hing ihm ins Gesicht. Die Schweißflecke auf dem T-Shirt stammten nicht von heute. Er stank. »Steh hier nicht rum, das ist keine Wartehalle.«

Tina machte die Wohnungstür auf, huschte in ihr kleines Reich, schloss hinter sich ab und streckte dem Nachbarn die Zunge raus. Ihre Tasche warf sie in die Ecke unter der Garderobe, die Jacke folgte. Behutsam legte sie das Paket auf den Esstisch, streichelte darüber. »Bin gleich zurück.«

Nachdem sie ihre Blase erleichtert hatte, tänzelte sie in die Küche und setzte Teewasser auf. Dann starrte sie in das Kühlfach: Pizza oder Lasagne? Sie entschied sich für Veggiepizza, schob die gefrorene Scheibe in den Ofen und kehrte an den Tisch zurück.

Hastig riss sie das Paket auf und lächelte. »Mein Schatz.«

Sie entnahm dem Pappkarton eine neutrale Schachtel, hob den Deckel ab und leerte den Inhalt auf den Tisch. Der Wasserkocher piepte.

Tina stand auf und eilte zur Küchenzeile. Tasse aus dem Schrank, Teebeutel rein, Wasser drauf. Die heiße Flüssigkeit zauberte das Bild eines feuerspeienden Drachen auf das Porzellan. Thermoeffekt. Zurück zum Tisch.

Dort lagen kreuz und quer 2500 Puzzleteile, unterschiedliche Formen in glänzendem Weiß, beidseitig ohne Aufdruck. Ein Zauberpuzzle. Anders als bei der Tasse kannte Tina das Motiv nicht. Surprise!

Surprise hieß die Firma der Zauberpuzzles. Tina hatte sie vor einem halben Jahr auf Instagram entdeckt und jeden Tag versucht, das Puzzle zu bestellen. Andere Kunden waren immer schneller gewesen. Doch dann lag es in ihrem Warenkorb, und sie durfte den Bestellvorgang abschließen.

20 Minuten später hatte sie alle Teile auf dem Tisch verteilt. Sie nippte an dem erkalteten Tee und konzentrierte sich auf die Formen der Puzzleteile.

»Vielleicht hätte ich mir einen schwarzen Tisch kaufen sollen. Weiß auf weiß. Blöd.«

Tina schaute überrascht auf und schnupperte. Es roch verbrannt. Sie sprang auf. »Die Pizza!«

Der Käse war braun, der Boden verkokelt. Der krosse Rand schnitt ihr beim Abbeißen in den Gaumen. Das crunchige Geräusch nervte, sie aß den Belag und warf die Teigreste weg.

Puzzeln hatte Tina vor ein paar Jahren entdeckt. Nach einem Burnout sollte sie ihr Leben ändern und Entspannungsmethoden ausprobieren. Yoga hatte sie nicht durchgehalten. Eine Freundin hatte ihr dann ein Puzzle geschenkt. Es war die Entspannung pur. Seitdem stapelten sich die Puzzlepackungen auf dem Kleiderschrank. Kein Puzzle war zu schwer. Doch das Surprise sollte eine Herausforderung werden. Denn laut Beschreibung zeigte sich das Motiv erst, wenn vier Teile in Kleeblattform richtig miteinander verbunden wurden.

Tinas Wangen waren gerötet. Die Zungenspitze steckte zwischen den Lippen. »Puh, das wird schwierig.« Noch lächelte sie.

Sie setze zwei Teile zusammen. Dann zwei weitere. Die Ausstanzungen waren kaum voneinander zu unterscheiden. Sie drehte und wendete, probierte aus, rieb sich die Augen. An diesem Abend gelang es ihr, einzelne Teile zu einem Paar zusammenzufügen, ein Kleeblatt war nicht dabei. Das Motiv? Surprise!

Noch lächelte sie

Am nächsten Tag meldete sie sich krank. Suchtfaktor Puzzle. Entspannung ade.

Ungeduscht, in ihrem geliebten Bademantel im Marienkäferdesign, mit einer Kanne Kaffee und einem Nuss-Nougat-Sandwich bewaffnet, setzte sie sich wieder an den Tisch und starrte auf die Puzzleteile. Alle weiß – bis auf vier, die zusammen einen Farbtupfer zauberten.

»Die waren doch gestern Abend nicht da.« Sie leckte die Schokolade von der Toastseite ab. »Oder habe ich das im Halbschlaf fabriziert?« Tina schüttelte den Kopf. »Egal … Was bist du denn?«

Schwarze, rote und weiße Tupfen erkannte sie auf den vier zusammenhängenden Puzzleteilen. »Das kann alles Mögliche sein.« Nach zwei Stunden gelang es ihr, drei andere Teile den vieren anzuhängen. Sie blieben weiß. Vier weitere Stunden später bestellte sie sich Hamburger und Pommes und hatte die Hälfte des Rands zusammengesteckt. »Ich bin super!«, feuerte sie sich an.

Am Ende des Tags schaute Tina zufrieden auf ihr Werk. In dieser Nacht schlief sie schlecht, träumte von Puzzleteilen mit Zähnen und Monstermotiven. Am Samstagmorgen ignorierte sie das Puzzle, fuhr zuerst einkaufen, versorgte sich mit Obst, Gemüse und schnellen Veggiegerichten. Zuhause packte sie alles weg, kochte sich Tee – und erstarrte beim Anblick des Puzzletischs: Der Rand war zerstört, stattdessen lagen dort sechs einzelne Vierer-Ornamente, allesamt farbig.

»Das ist doch ein Witz!« Sie drehte sich langsam um die eigene Achse, ihr Puls raste.

»Ist hier jemand?«

Die schlechteste Frage aller Zeiten. In jedem Horrorfilm stand dann der Axt schwingende Mörder im Schlafzimmer und wartete nur auf sie.

»Wer bist du? Was willst du hier, und warum, verdammt noch mal, fummelst du an meinem Puzzle rum?«

Keine Antwort.

»Hey! Ich weiß, dass du hier bist. Ich finde dich.«

Stille.

Sie zog das Sägemesser aus dem Messerblock, ging durch die Wohnung, schaute hinter den Vorhang, in die Schränke, ins Schlafzimmer, unter das Bett, ins Bad, in die Badewanne. Sie klappte den Klodeckel hoch.

»Ein Horrorzwerg würde da sicher reinpassen.« Tina kicherte überfordert.

Das einzige Monster, das sie in diesem Moment im Spiegel erblickte, war sie selbst. Die Schultern hochgezogen, die Augen weit aufgerissen, Schweiß auf der Stirn.

»Tina, hier ist niemand«, sagte sie zu sich selbst. »Wo bleibt die Entspannung?«

Sie atmete tief durch. »Genau, ich schlafwandle. Das ist es. So verrückt bin ich schon nach diesem Puzzle.« Sie lachte viel zu laut, setzte sich an den Tisch und fügte den Rand erneut zusammen. Dann ging sie ins Bett.

Wie ein Kind, das den Weihnachtsmann durch den Schornstein rutschen sehen wollte, rannte sie am Morgen in die Küche. Und die Überraschung war gelungen: Jegliche Mühe des gestrigen Abends war zerstört, der Rand auseinandergerissen, einige der Teile lagen auf dem Boden, nur vereinzelte Viererblocks waren zusammengefügt – bunt gefärbt in Schwarz-Rot.

Sie stampfte mit den Füßen auf und boxte wild in der Luft herum. »Warum? Verdammt noch mal! Was stimmt nicht mit mir?« Sie ließ sich aufs Sofa fallen, zückte ihr Handy und suchte nach »Erfahrung mit Surprise-Puzzle«. Google präsentierte Kaufvorschläge für Puzzles und Übersetzungssoftware. Und überraschender: Der Link zum Shop funktionierte nicht mehr.

»Dann habe ich wohl das letzte Puzzle bekommen.« Erfreut flüsterte sie: »Ich werde dich bezwingen.«

Den gesamten Sonntag arbeitete sie daran, Puzzleteile aneinanderzustecken. Alle Randteile – zusammengefügt. 52 Viererpacks – bunt, aber ohne Verbindung.

In der Nacht von Sonntag auf Montag stellte Tina ihr Smartphone auf den Nachttisch, schaltete die Kamera auf Film und startetet die Aufnahme. Sie wälzte sich hin und her, zählte zuerst Schäfchen, dann Puzzleteile. Irgendwann dämmerte sie ein und schreckte kurz vor fünf Uhr aus einem düsteren Traum hoch. Mit einem beklemmenden Gefühl, das ihr Herz schneller klopfen ließ, setzte sie sich auf, knipste die Nachttischlampe an, griff zu ihrem Handy und stoppte die Aufnahme. Vor knapp sechs Stunden war sie ins Bett gegangen. Im Schnelldurchlauf betrachtete sie ihren unruhigen Schlaf: Sie schnarchte, wenn sie auf der linken Seite lag. Zweimal hatte sie die Decke fortgestrampelt und wieder vom Boden hochgeangelt. Aufgestanden war sie nicht.

In zwei Stunden würde ihr Bus fahren – außer, sie meldete sich erneut krank. Tina sprang aus dem Bett, lief in die Küche und erstarrte. Alle Teile des Puzzlerands lagen verstreut auf dem Boden. Sie sah sich um. »Was ist hier los?«

Das erste Mal, seit sie das Puzzle von der Fußmatte genommen und vor Glück geherzt hatte, spürte sie Furcht. Jemand betrat ihr Zuhause, wenn sie schlief. Nur der Hausmeister besaß noch einen Schlüssel. Sie verabscheute ihn, diesen Kerl, der nach Bier und Schweiß roch. Die Vorstellung, dass er sich Zugang zu ihrer Wohnung verschaffte, lähmte sie. Sollte sie ihn darauf ansprechen oder die Polizei rufen? Beides erschien Tina unsinnig. Er würde es abstreiten, die Polizei sie nicht ernst nehmen. Stattdessen installierte sie Laptop und Kamera in der Küche, ausgerichtet auf das Puzzle. »Diesmal erwisch ich dich«, brummte sie, setzte lustlos den zerstörten Rand zusammen, legte sich dann aufs Sofa und zog sich eine Serie mit dem Titel »Twilight Zone« rein.

Das erste Mal, seit sie das Puzzle genommen und vor Glück geherzt hatte, spürte sie Furcht

In dieser Nacht hielt sie an der Wohnungstür Wache, den Bademantel fest um sich geschlungen, ein Küchenmesser in der Hand. Niemand drang in ihre Wohnung ein, doch aus der Küche hörte Tina ein Geräusch. Es war kurz nach zwei. Langsam stand sie auf und schlich leise in die Küche. Ihr Herz pochte viel zu schnell. Dann wählte sie auf ihrem Handy den Notruf.

Eine Stimme meldete sich in der Leitung: »Hallo? Brauchen Sie Hilfe?« Tina wollte »Ja« sagen, kam aber nicht dazu.

Als die Polizei eintraf, fand sie keinen Hinweis auf Einbruch oder eine Gewalttat noch die Mieterin Tina S. Ihr Handy lag auf dem Küchenfußboden, die Notrufnummer auf dem Display. Auf der Küchenzeile stand ein aufgeklappter Laptop, der den Esstisch filmte. Die Aufnahme endete kurz vor Mitternacht. Auf dem Tisch lag ein fertiggestelltes Puzzle mit einem grotesk aussehenden Motiv wie aus einem Horrorfilm: Ein monsterähnliches Wesen mit Reißzähnen und viel zu großem Maul verschlang einen Menschen, der einen roten Mantel mit schwarzen Tupfen trug. Der Rand hielt den gruseligen Inhalt gefangen.

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