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Barbaren, Geister, Gotteskrieger: Eine erste religionswissenschaftliche Evolutionstheorie

Zu den ersten Entwürfen, die vor allem die Religionswissenschaft nachhaltig prägten, gehören unzweifelhaft die Arbeiten Edward Burnett Tylors (1832–1917). Tylors erstes großes wissenschaftliches Werk mit dem Titel »Researches into the Early History of Mankind« entstand in den frühen 1860er-Jahren, einer Zeit, in der Darwins »Origin of Species« den Rahmen der Diskussion entwicklungsgeschichtlicher Prozesse in der Biologie absteckte.
Nordischer Götterhimmel

Zurück zu den Ursprüngen

Zu den ersten Entwürfen, die vor allem die Religionswissenschaft nachhaltig prägten, gehören unzweifelhaft die Arbeiten Edward Burnett Tylors (1832–1917). Tylors erstes großes wissenschaftliches Werk mit dem Titel »Researches into the Early History of Mankind« entstand in den frühen 1860er-Jahren, einer Zeit, in der Darwins »Origin of Species« den Rahmen der Diskussion entwicklungsgeschichtlicher Prozesse in der Biologie absteckte, während Spencers »System of Synthetic Philosophy« einen Schwerpunkt bei der Beschreibung und Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit setzte. In dieser Zeit wandte sich das Interesse der Öffentlichkeit verstärkt völkerkundlichen Themen zu. Dazu hatten nicht nur die überaus populären Reiseberichte von Wallace, Darwin und anderen sowie die Formulierung der Evolutionstheorie beigetragen. Der rasche Zuwachs an ethnografischen Daten, vor allem aber die Entdeckung der Überreste fossiler Menschen und ihrer Artefakte sowie Spekulationen über das mögliche Alter des Menschengeschlechts hatten das Augenmerk von Wissenschaft und Laien auf die Frage nach den Ursprüngen der Kulturen gelenkt.1 Ursprünglich lebende Völker mit ihren merkwürdig anmutenden Sitten und ihrer wenig entwickelten Technologie schienen diesem vermuteten Anfang noch nahezustehen und einen direkten Einblick in die Kinderstube der Menschheit zu ermöglichen.2 Es lag daher nahe, dass Tylor sich unter dem Eindruck einer Studienreise nach Mexiko, die er eigentlich aus Gesundheitsgründen angetreten hatte, intensiv dem Studium von Reiseberichten, prähistorischen Untersuchungen sowie ethnografischen, archäologischen und kulturhistorischen Schriften widmete.3 Aus den Reiseeindrücken und diesen umfangreichen Literaturstudien ging 1865 Tylors erstes großes wissenschaftliches Werk hervor, das unter dem Titel »Researches into the Early History of Mankind and the Development of Civilisation« verschiedene Aspekte der menschlichen Kultur in einen losen Zusammenhang setzte und noch unsystematisch unter entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten diskutierte. Seine Ausführungen, eher eine Reihe von Essays als ein geschlossenes Werk, behandelten die Entwicklung von Artefakten und Waffen ebenso wie das Aufkommen von Sitten und Gebräuchen, die Kunst, Mythen und Religion, eine Thematik, die völlig neu und ungewohnt war. Tylors Untersuchung der menschlichen Kulturen von ihren primitiven Anfängen bis zur Gegenwart schloss zur damaligen Zeit eine Wissenslücke und traf mit ihrer Betonung der Dynamik von Entwicklungen den Nerv der Zeit: In dreizehn Kapiteln versuchte Tylor, mithilfe vergleichender Untersuchungen eine Entwicklung von einfachen zu komplexen Formen im Bereich der menschlichen Kultur nachzuweisen. Vor allem die Mythologie der verschiedenen Völker faszinierte Tylor. Übereinstimmungen im Mythenschatz der Völker führte Tylor einmal auf eine identische Bewusstseinsstruktur der Menschen zurück – der menschliche Geist erzeugt unter gleichen Umständen Gleiches. Andererseits wollte Tylor jedoch auch eine mögliche Diffusion durch Kulturkontakte nicht vollständig ausschließen, für die Parallelen der alten Kulturen Asiens und Amerikas zu sprechen schienen.4 Diese Problematik ergab sich, da Tylor als Nichtbiologe und daher in der Systematik ungeschult, Analogien und Homologien nicht unterschied. Damit musste er sämtliche Merkmale ungeachtet ihrer Wertigkeit in seine Systematik miteinbeziehen und gelangte daher nicht zu klaren Verwandtschaftsbeziehungen, die ihm bereits hier ein Stammbaumschema der Kulturentwicklung hätten liefern können.

In seinem Hauptwerk »Primitive Culture« griff Tylor die angeschnittenen Fragen wieder auf, legte aber inzwischen den Schwerpunkt seiner Erörterungen eindeutig auf die nichtmateriellen Kulturgüter und hier besonders auf die Religion, deren Einordnung in ein evolutionistisches Schema ebenso ungewöhnlich wie neu war. Hier findet sich auch Tylors inzwischen berühmte, umfassende Definition von Kultur, die zu seiner Zeit als revolutionär gelten musste, weil er auch den sogenannten Wilden oder Primitiven so etwas wie Kultur zugestand: Kultur ist nach Tylor »jenes komplexe Ganze, welches Wissen, Glaube, Kunst, Moral, Recht, Sitte, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, welche der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat.«5 Ziel von Tylors Untersuchungen war nicht nur die Beschreibung der verschiedenen Kulturen der Menschheit, sondern vor allem deren Analyse, die in die Formulierung eines allgemeingültigen Entwicklungsgesetzes münden sollte.

Der Vergleich mit Forschern wie Darwin und Spencer drängt sich nicht nur dem heutigen Leser (allerdings nur bei der Lektüre der ersten Kapitel) auf; eine gleichartige und gleichrangige Untersuchung, wenn auch mit einer eigenen und auf die Anforderungen des Stoffes zugeschnittenen Methodik, war von Tylor unbedingt beabsichtigt.6 Wie die Biologie müsse auch die Wissenschaft vom Menschen, der ein Teil der belebten Natur sei, als Naturwissenschaft aufgefasst und daher mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden erforscht werden. Die Entwicklung der menschlichen Kultur kann daher nach Auffassung Tylors ebenfalls als Evolutionsgeschehen aufgefasst werden. Um genau dieses Evolutionsgeschehen zu erfassen, griff Tylor jedoch nicht auf die durchaus populären und auch unter Nichtbiologen bekannten Erkenntnisse eines Wallace, Darwin oder auch Huxley zurück, sondern orientierte sich an den Autoren, die bereits ein Evolutionsgeschehen im Bereich von Gesellschaft und Kultur beschrieben hatten – und das waren Spencer und Comte. Dabei nahm Tylor nicht wahr, dass weder der historisch argumentierende Comte noch der in Entwicklungsstadien denkende Spencer das Charakteristische der Evolution, nämlich das Zusammenspiel zwischen dem Auftreten von Varietäten und der darauf einwirkenden Selektion, erkannt hatten. Folgerichtig finden sich auch bei Tylor nur die Entwicklungsstadien wieder, die sich seit Comte und Spencer als eine feste Größe in den Geisteswissenschaften etablieren konnten. Diese Entwicklungsstadien, die auch Tylor ausgemacht hatte, sollten das Ergebnis der voraufgegangenen Stadien sein und bis zu einem gewissen Grade das folgende determinieren. Auch die Tatsache, dass auch innerhalb der einzelnen Entwicklungsstadien nicht alle Völker vollkommen gleich sind, sprach nach Tylor nicht gegen die Berechtigung einer Stadieneinteilung, denn wie es in der Biologie Varietäten einer Art gebe, müssten die unterschiedlichen Ausprägungen der Kulturen dann als Varietäten des entsprechenden Stadiums aufgefasst werden. Parallelen im Erscheinungsbild der Kulturen führte Tylor dagegen auf den menschlichen Geist zurück, der unter gleichen Bedingungen gleiche Resultate hervorbringe. Das letztgenannte Argument, mit dem Tylor Stellung in der lebhaften Diskussion um die Einheit der menschlichen Spezies bezog, brachte ihn in Gegensatz zu solchen Wissenschaftlern, die den nichtkaukasischen »Rassen«, also allen Nichtweißen, gleiche mentale Fähigkeiten absprachen. Gerade dieses Eintreten für die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen, gleich welcher Hautfarbe, unterscheidet Tylor wohltuend von vielen seiner Zeitgenossen, die den indigenen Völkern in den Kolonien des britischen Imperiums mindere intellektuelle und auch moralische Fähigkeiten unterstellten; auch um deren Unterwerfung, Entrechtung und Ausrottung zu rechtfertigen – ein Vorgang, der bekanntermaßen auch Darwin mit Abscheu erfüllt hatte. Allerdings war die Annahme eines bei allen Menschen grundsätzlich gleich arbeitenden Verstandes für Tylor eine Notwendigkeit, ohne die sein kulturvergleichender Ansatz jeder Grundlage beraubt gewesen wäre. Denn nur, wenn die Grundlagen des Denkens und Handelns des hochzivilisierten Europäers letztlich denen des »Primitiven« gleich sind, sind auch ihre immateriellen Kulturgüter vergleichbar, und auch nur dann können mithilfe des Vergleichs allgemeine Entwicklungstendenzen herausgearbeitet werden!

Diese Entwicklungstendenzen lassen sich nun allerdings am einfachsten an technischen Entwicklungen wie beispielsweise dem Fortschritt in der Waffentechnik festmachen (vgl. auch hier wieder die gleiche Argumentation wie bei Spencer); gleichzeitig belegen entsprechende Reihen die entstehungsgeschichtliche Verknüpfung der einzelnen Entwicklungsschritte: Die fortgeschrittene Form ist demnach tatsächlich aus der einfacheren hervorgegangen und nicht etwa eine unabhängige Neuentwicklung. Nicht alles innerhalb einer Kultur ändert sich jedoch: Tylor konnte eine Gruppe von Erscheinungen ausmachen, die unverändert von einem früheren Entwicklungsstadium in das folgende übernommen wurden und dort eigentlich einen Fremdkörper darstellen. Diese sogenannten »Survivals« erlauben dem wissenschaftlichen Beobachter den direkten Einblick in frühere Stadien und leisten somit der Forschung wichtige Dienste. Zu den Survivals gehören solche Bräuche wie das Mittsommernachtsfeuer, das Allerseelenfest, aber auch der moderne Aberglaube. Während solche Sitten und Gebräuche im heutigen Mitteleuropa oft zur bloßen Folklore herabgesunken sind, stehen sie laut Tylor in überseeischen Ländern noch in hoher Blüte und sind integrativer Bestandteil der dortigen Kultur – einer Kultur auf einer niedrigeren Stufe selbstverständlich!

Die vergleichende Methode ermöglicht jedoch nicht nur die Einordnung der bekannten historischen und zeitgenössischen Kulturen in ein Entwicklungsschema. Auch die Urzeit lässt sich mithilfe der archäologischen Artefakte erschließen, und zwar über den Vergleich mit zeitgenössischen »wilden Stämmen«. Da nämlich etliche Elemente in der Kultur der noch heute auf niedrigster Kulturstufe stehenden Völker starke Ähnlichkeit mit den archäologischen Hinterlassenschaften ausgestorbener Völker der Vorzeit zeigen, muss laut Tylor von einer generellen Übereinstimmung vorgeschichtlicher und heutiger primitiver Kulturen ausgegangen werden. Heutige primitive Kulturen sind daher letztlich nichts anderes die »Überreste« eines frühen menschheitsgeschichtlichen Stadiums. Dies bedeute jedoch, dass sich die menschliche Kultur von einem Stadium der Wildheit kontinuierlich bis zum heutigen Stand der Zivilisation entwickelt haben muss.

Tylors Gleichsetzung von heutigen Wildbeutervölkern mit dem Menschen der Vorgeschichte ist heute selbstverständlich indiskutabel und würde zu Recht als eine bösartige Diskriminierung indigener Völker betrachtet werden. Zur damaligen Zeit, in der ernsthaft diskutiert wurde, ob Afrikaner oder die Ureinwohner Australiens überhaupt der gleichen Spezies wie die Kaukasier (Weiße) angehörten oder ob es sich hierbei um eigenständige Menschenarten handele, bedeutete die Gleichsetzung der sogenannten »Wilden« Afrikas mit den Vorfahren der Europäer eine enorme Aufwertung der zeitgenössischen, nichteuropäischen Kulturen einschließlich ihrer Religionen. Gerade das Studium der Religionen sogenannter »Primitive r« wurde von etlichen Vertretern der etablierten viktorianischen Wissenschaft als uninteressant abgetan – das primitive Denken weniger befähigter Rassen konnte für den zivilisierten Mitteleuropäer kaum von Interesse sein.7 Tylors Ansatz stellte jedoch diese sogenannten Wilden auf eine Stufe mit den eigenen Vorfahren. Der Europäer konnte sich keineswegs mehr als der Vertreter einer überlegenen Rasse fühlen (wie Chambers noch in seinen »Vestiges« postuliert hatte), sondern hatte sich aus genau jenen primitiven Ursprüngen entwickelt, welche »unzivilisierte« Völker heute noch zeigen. Nicht nur das, zahlreiche Survivals – Überlebsel; in biologischer Terminologie wären das Plesiomorphie n – belegten überdies, dass das primitive Denken keineswegs gänzlich überwunden war. Diesen primitiven Ursprüngen galt es auch in der Religion nachzugehen, eröffneten sie doch einen unverstellten Blick in die Vergangenheit. Tylor, der nicht wie noch viele seiner Zeitgenossen von einem theologischen Standpunkt ausging, sondern ethnologisch dachte, glaubte eine einlinig-aufsteigende Religionsentwicklung von primitivsten Anfängen bis zum aufgeklärten Christentum nachweisen zu können. Dies musste jedoch bedeuten, dass das Christentum nicht immer die hochstehende Religion gewesen war, als die es sich jetzt zeigte, sondern dass sich auch hier die Spuren der primitiven Ursprünge nachweisen lassen mussten. Mehr noch, ohne genaue Kenntnis der primitiven Religionen der zeitgenössischen »Wilden« konnte die christliche Religion in ihrer heutigen Ausprägung nicht verstanden werden. Für das Christentum, das zu Tylors Zeit noch ganz selbstverständlich als offenbarte und damit richtige und nicht weiter zu hinterfragende Religion galt, war das nicht weniger als ein bösartiger Angriff. Gerade hatte man sich von dem Schlag erholt, den Darwins »Origin of Species« dieser altehrwürdigen und etablierten Religion versetzt hatte, da kam ein Tylor und wollte in den christlichen Gottesdiensten mit ihren würdevollen Hochämtern nichts anderes sehen als den Endpunkt einer Entwicklung, die mit den ekstatischen Tänzen und kruden magischen Praktiken von Wilden begonnen hatte!

Werfen wir noch einmal einen genaueren Blick auf diese Entwicklung, wie Tylor sie sich vorstellte: In »Primitive Culture« (erschienen 1871), dem Werk, das Tylor berühmt machen sollte, knüpfte Tylor an seine bisherigen Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt an, der sich in erster Linie am Stand der Technisierung und der Wissenschaft, dann aber auch der gesellschaftlichen Organisation und zuletzt an der der Moral und der Religion orientierte. Maßstab dieser Einteilung war auch hier wieder der Stand der technischen Entwicklung, wobei die Verhältnisse in den technisch und industriell hoch entwickelten Nationen Westeuropas und Nordamerikas den Bewertungsmaßstab darstellten. Eine solche Einschätzung ermöglichte die Anordnung der Kulturen auf einer Entwicklungsskala, auf der die Völker der Australier, Tahitianer, Azteken, Chinesen und Italiener in der genannten Reihenfolge die einzelnen Schritte fortlaufender Kulturentwicklung demonstrierten. Das Klassifikationskriterium für die verschiedenen Kulturen war der allgemeine Fortschritt der Menschheit auf der Basis eines höheren Maßes an Organisation der Gesellschaft und des Individuums mit dem Ergebnis des größeren Glücks für alle. Tylor lehnt sich hier sehr eng an Spencer an, den er jedoch nicht erwähnt oder gar diskutiert, und vielleicht eben deshalb den Spencer’schen Fehler wiederholt, Kulturen – oder welche Einheiten auch immer – nur anhand eines einzigen und möglicherweise nicht aussagekräftigen Merkmals zu klassifizieren; ein Defizit, das in der Biologie bereits mit Linné, vor allem aber mit Cuvier überwunden worden war. Dieser schwerwiegende Fehler in systematischer Hinsicht führte dazu, dass Tylor dann eben nicht – entgegen seiner erklärten Absicht – biologisch vorging, sondern getreu geisteswissenschaftlicher, auf Comte zurückgehender Tradition drei Stadien, das Stadium der Wildheit, das Stadium der Barbarei und das Stadium der Zivilisiertheit unterschied. Als positive, wissenschaftlich gesicherte Belege für die Gültigkeit seiner Entwicklungshypothese führte Tylor die Historie an: Die moderne Zivilisation fußte eindeutig auf dem Mittelalter, das Mittelalter selbst auf der Antike. Aus dieser Feststellung ließ sich für Tylor ein allgemeines, durch Beobachtung verifiziertes Prinzip ableiten, dass nämlich einer hohen Kultur eine mittlere und dieser wiederum eine niedrigere vorauszugehen habe. Genau die Anwendung dieses Prinzips, dem nach Tylor der Wert eines naturwissenschaftlichen Gesetzes zukommen musste, gestattete wiederum die Beschreibung der menschlichen Gesellschaft auch da, wo Beobachtung versagte. Als Vorläufer der bekannten Kulturen und damit der europäischen Zivilisation kamen nur solche Kulturen infrage, die das Stadium der Wildheit repräsentierten – dies aber waren genau jene Kulturen, die man bei zeitgenössischen »Wilden« noch beobachten konnte.

Am allgemeinen kulturellen Fortschritt, für den sowohl die Ethnografie als auch die Archäologie eine Vielzahl von Belegen hatten beibringen können, haben jedoch unter Umständen manche Traditionen, eben jene Survivals, kaum einen Anteil. Im Gegenteil verändern sie sich auch unter gewandelten Bedingungen von Generation zu Generation so geringfügig, dass sie noch Jahrhunderte später in abgewandelter Form zu beobachten sind. Zu den Survivals ist nach Tylor z. B. die Magie zu rechnen, die zu den ältesten Erscheinungen der menschlichen Kultur gehört und auch heute noch bei jenen Völkern verbreitet ist, die an der »Erziehung der Welt« keinen oder nur geringen Anteil hatten. Daraus lässt sich nach Tylor folgern, dass die Verbreitung der Magie mit dem Fortschreiten der kulturellen Entwicklung abnehmen muss, um in den am höchsten zivilisierten Ländern lediglich noch als Rudiment, als gelegentlicher Aberglaube, zu erscheinen. Gleichzeitig ist Magie, Tylor bezeichnet sie in diesem Zusammenhang auch als Pseudowissenschaft, der Ersatz für die noch fehlende Kenntnis ursächlicher Zusammenhänge. In dem Maße, wie die Kenntnisse zunehmen, lernen die einzelnen Völker und geben nach und nach die Magie zugunsten wissenschaftlicher Erkenntnis und daraus folgender Problemlösungen auf.

Mit der Beschreibung und Analyse des Mythos kommt Tylor auf sein eigentliches Interessengebiet, die Religionen, zu sprechen, deren Vielfalt er mit dem Ziel analysiert, gemeinsame Grundlagen und durchgängige Entwicklungstendenzen herauszuarbeiten. Mythen sind nicht etwa das Ergebnis der menschlichen Fantasie, sondern basieren vielmehr auf einem gemeinsamen Grundstock von Motiven, die im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte zahlreichen Veränderungen unterworfen waren. Zu diesen Motiven, um die sich die Mythen der historischen wie der zeitgenössischen Völker ranken, gehören die Naturmythen, die nach Tylor als das Ergebnis eines noch kindlich-unentwickelten, forschenden Geistes gesehen werden können. Naturmythologie ist demnach eine frühe Form von Naturerkenntnis, die wissenschaftlicher Erkenntnis vorangeht.8 Als einzelne Entwicklungsschritte können ein erstes Nachdenken über die Ursachen von Naturerscheinungen und deren Benennung (ein Donnergott), philosophische Spekulation mit dem Ergebnis einer komplexen Mythologie (das polytheistische Pantheon) und zuletzt philologische Untersuchung und märchenhafte Erzählung ausgemacht werden. Ähnliche mythische Themen bei unterschiedlichen Völkern können als das Ergebnis einer gleichartigen Problemlösung infolge der prinzipiell gleichen Geistestätigkeit des Menschen gedeutet werden. Da der menschliche Geist überall dazu neigt, die Dinge seiner Umgebung zu beseelen und zu anthropomorphisieren, wird sich die Vorstellung belebter Objekte bzw. deren mythischer Personifikation nicht nur im Weltbild des Kindes wiederfinden lassen, das seine Puppe mit menschlichen Qualitäten ausstattet, sondern wird sich durch die Vorstellung aller primitiven Kulturen ziehen.9 Diese Anthropomorphisierungstendenzen zeigen sich in der Personifizierung von Himmelsobjekten, wie beispielsweise der Gott Helios in der griechischen Mythologie für die Sonne steht, aber auch bei Naturerscheinungen (Zeus, Demeter). Die Entstehung des Mythos lässt sich daher als das Ergebnis einer noch kindlich-ungebildeten, aber poetisch-kraftvollen Geistestätigkeit darstellen, die beim »Wilden« in voller Blüte steht, sich bei den barbarischen oder halb zivilisierten Völkern fortsetzt und in der zivilisierten Welt ihre Bedeutung als Naturerklärung verliert und zu fantasievoller Dichtung wird.

Anmerkungen

1. Zum Beispiel die Entdeckung und Beschreibung des ersten Neandertalers bei Düsseldorf! Fuhlrott, Johann Carl: Menschliche Ueberreste aus einer Felsengrotte des Düsselthals. Verhandlungen des naturhistorischen Vereins der preussischen Rheinlande und Westphalens 1859, S. 131–153.

2. Lang, Andrew: Edward Burnett Tylor. In: Balfour, Henry et al., Anthropological Essays Presented to Edward Burnett Tylor in Honour of his 75 th Birthday Oct. 2 1907, Oxford 1907, S. 1 f.
Lang, Andrew: The Making of Religion. In: Waardenburg, Jaques, Classical Approaches to the Study of Religion. Aims, Methods and Theories of Research, New York, Berlin (Le Hague 1973): De Gruyter 1999, S. 220–243.
Eddy, Matthew Daniel: The Prehistoric Mind as a Historical Artefact. Notes and Records of the Royal Society. 65, 20011, S. 1–8.

3. Kohl, Karl-Heinz: Edward Burnett Tylor (1832–1917). In: Michaels, Axel (Hrsg.), Klassiker der Religionswissenschaft, München: Beck 1997, S. 46.

4. Diese Problematik ergab sich, da Tylor als Nichtbiologe und daher in der Systematik ungeschult, Analogien und Homologien nicht unterschied und damit sämtliche Merkmale nicht bewertet in seine Systematik miteinbeziehen musste.

5. Wörtlich heißt es: »Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits aquired by man as a member of society.« Tylor, Edward Burnett, The Origins of Culture, Cloucester, Mass. 1970 (1958), ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel Primitive Culture, Kapitel I–X, London 1871, S. 1.

6. Tylor weist in seinem Vorwort auf Spencer und Darwin hin, die gleichartige Untersuchungen, allerdings für ein anderes Sachgebiet durchgeführt hätten. Seine eigenen Forschungen sieht er durchaus in der gleichen Tradition.

7. Dazu kritisch: Frobenius, Leo : Kulturgeschichte Afrikas. Prolegomena zu einer historischen Gestaltlehre. Reprint der Ausgabe von 1954 des Paidon-Verlags, Zürich. Wuppertal: Hammer 1998, S. 10–12.

8. Tylor, Edward Burnett, The Origins of Culture, Cloucester, Mass. 1970 (1958), ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel Primitive Culture, Kapitel I–X, London 1871; S. 275.

9. Die gleichen Argumente finden sich auch heute in vielen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen wieder – z. B. bei Mithen oder Boyer!

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